Die unerwarteten Gewinner
100 Millionen Autos werden weltweit pro Jahr produziert, Millionen von Arbeitsplätzen hängen an dem Sektor und in vielen Ländern ist dieser Sektor der größte Steuerzahler. Gerade in Industrieländern stellt die Automobilindustrie einen der bedeutendsten Wirtschaftszweige dar. In der Vergangenheit waren das Nachfragewachstum in China, verbrauchsparende Motoren und Verkaufsfinanzierung durch Leasing die wichtigsten Themen am Markt. Dies hat sich gewaltig gewandelt: In der kommenden Dekade werden Entwicklungen wie Shared Mobility, Elektrifizierung und autonomes Fahren den Automobilsektor mit voller Breitseite treffen und fundamental verändern.Eine grundlegende Frage ist zum Beispiel, ob wir in Zukunft überhaupt noch ein Automobil besitzen müssen? Shared-Mobility-Lösungen wie die kurzfristige Automiete von Car2Go oder Ride Sharing mit Uber können vor allem in Ballungszentren das eigene Auto nahezu überflüssig machen.Denn das ist bequem und häufig kosten- und platzsparend. In vielen Megastädten Chinas, dem größten Absatzmarkt der Welt, wird aufgrund von limitierter Plakettenvergabe und Parkplatzproblemen der Automobilbesitz fast gar nicht möglich sein. Chinas größter Mobilitätsplattform, Didi Chuxing Technology zufolge, sind die Kosten pro gefahrenem Kilometer um bis zu 25 % günstiger gegenüber dem eigenen Auto. Didi ist nicht nur der größte Ride-Sharing-Anbieter, sondern betreibt auch die größte Elektroautomobilflotte in China – inklusive eines Netzwerks an Ladestationen. 2019 hatte die globale Elektroautoindustrie 2019 gestöhnt, dass China die Verkaufsförderungen abgeschafft hatte. Dabei zeigt sich inzwischen, wie zum Beispiel Didi berichtet, dass die ökonomische Berechnung bereits zugunsten von Elektroautos gegenüber dem Verbrennungsmotor kippt. Zusammen mit den aggressiven CO2-Zielen in Europa bis 2030, die die Autobauer zwingen, mehr Elektromodelle auf den Markt zu bringen, ist der Weg für die Elektrifizierung des Automobils in der kommenden Dekade gesetzt. Trend zu autonomem FahrenDoch ein Großteil dieser neuen Autos wird vermutlich keinen Fahrer haben, geschweige denn wie ein gewöhnliches Automobil aussehen. Didi ist neben Googles Waymo, Tesla und Uber einer der globalen Pioniere für autonomes Fahren und wird vermutlich demnächst Teststrecken im Alltag für Robotaxis anbieten. Die gewaltige Menge an Daten, die man als größtes Taxiunternehmen Chinas sammelt, sollte dabei definitiv helfen.Der Trend zur Elektromobilität und autonomem Fahren ist dementsprechend eine Entwicklung, an der man als Investor kaum vorbeikommt. Sollte sich die Entwicklung wie kurz skizziert so fortsetzen, gibt es in diesem Bereich viele spannende Investitionsmöglichkeiten.Die deutsche Automobilindustrie, über Jahrzehnte Innovationspionier der Branche, hat in Sachen Elektromobilität laut dem E-Mobility-Index des Center of Automotive Management (CAM) an der Fachhochschule der Wirtschaft (FHDW) in Bergisch Gladbach deutlich mit dem Innovationstempo von Spielern wie Tesla oder den chinesischen Marktführern wie BYD und BAIC zu kämpfen. Im Premiumsegment mischt Tesla gerade den Markt mit der erfolgreichen Einführung des Model 3 weiterhin auf. Aber auch Tesla wird das Tempo bei der Innovation hochhalten müssen. Neue chinesische Spieler wie NIO oder Byton haben auch die Zeichen der Zeit früh erkannt und bereiten ihre Modelle sowohl mit der Software als auch vom Innenraumdesign bereits auf autonomes Fahren vor. Blick in zweite Reihe lohntDer globale Automobilmarkt ist hart umkämpft. Er erfordert hohe Investitionen, die Margen sind dünn und lange Investitionszyklen machen es schwierig, Fehler in der Technologieplattform kurzfristig zu beheben. In Anbetracht der hohen Innovationsgeschwindigkeit bei Batterietechnologie, autonomem Fahren, Neuerungen in Software- und Hardwaretechnik sowie des Eintritts nicht traditioneller Spieler wie der großen Internetkonzerne ist es sehr schwierig, die Gewinner von morgen heute bereits zu erkennen. Dementsprechend kann es auch für einen Investor schwierig sein, die richtigen Unternehmen unter den Markenherstellern zu finden. Deshalb lohnt ein Blick in die zweite Reihe, zu den Zulieferern – und zwar zu denen, die bislang nicht unbedingt als Automobilzulieferer aufgefallen sind.Dazu gehört in Deutschland beispielsweise Infineon, die sich innerhalb der Wertschöpfungskette für die Zukunft der Mobilität scheinbar gut positioniert hat. Das als Forschungslabor für Halbleitertechnik für den Siemens-Konzern schon 1946 gegründete Unternehmen profitiert schon seit längerem vom Trend zur Elektrifizierung – alles wird elektrisch – von der Haushaltselektronik, über das Mobiltelefon bis hin zu Industrierobotern und sogar Wind- und Solarkraftanlagen. Und in Zukunft auch das Automobil. Tatsächlich ist Infineon beim Umsatz über zwei Dekaden um gut 10 % pro Jahr gewachsen und hat dabei stetig Marktanteile gewonnen. Mittlerweile hat Infineon über 25 % Marktanteil im Bereich der Leistungshalbleiter für Automobile – doppelt so viel wie die Nummer 2 – und macht solide Profite. Wie früher beim GoldrauschWarum könnte das auf lange Sicht so bleiben? Die Halbleitertechnik zum Schalten von Strom erfordert großes Know-how in Physik, Chemie und Fertigungstechnik. Zusätzlich gibt es keine schnellen Innovationszyklen im Gegensatz zu digitalen Chips, die man von Computerprozessoren kennt, insofern wenig Gefahr, neue Trends zu verpassen. Zusätzlich hat Infineon Skalenvorteile in der Fertigung. Zudem hat das Unternehmen in Forschung und neue Kapazitäten investiert und könnte so von der kommenden Einführungswelle neuer EV-Modelle profitieren.Infineon ist dabei nur ein Beispiel von vielen potenziellen Nutznießern durch den durch Technologie getriebenen Wandel. Gerade für Investoren ist dabei der Blick über das enge Segment der eigentlichen Hersteller hinweg vielversprechend. Es ist ein bisschen wie früher beim Goldrausch. Wirklich langfristig erfolgreich waren nicht unbedingt die Goldgräber – sondern die, die die Schaufeln verkauft haben. Martin Hermann, Senior Portfoliomanager und Spezialist für Technologietitel im Wealth and Asset Management von Berenberg