10 JAHRE NACH DEM LEHMAN-KOLLAPS - GASTBEITRAG

Die Untergangspropheten hatten nicht Recht

Börsen-Zeitung, 14.9.2018 Zehn Jahre nach dem Konkurs von Lehman Brothers steht Deutschland gut da. Nicht auf Massenarbeitslosigkeit, tiefe Rezession und Deflation, wie sie mit Finanzkrisen verbunden werden, blicken wir zurück, sondern auf den...

Die Untergangspropheten hatten nicht Recht

Zehn Jahre nach dem Konkurs von Lehman Brothers steht Deutschland gut da. Nicht auf Massenarbeitslosigkeit, tiefe Rezession und Deflation, wie sie mit Finanzkrisen verbunden werden, blicken wir zurück, sondern auf den längsten Aufschwung seit den sechziger Jahren: Bei niedriger Inflation und Haushaltsüberschüssen bewegt sich der Arbeitsmarkt in Richtung Vollbeschäftigung.Nach Feiern ist aber niemandem zumute. Denn erneut haben nicht alle in gleichem Maße vom Aufschwung profitiert. Zu viele leben trotz Arbeitsplatz immer noch in prekären Einkommensverhältnissen. Vor allem aber wirkt die Finanzkrise bei jenen nach, die sich zuvor sicher gefühlt haben. Abstiegs- und Verlustängste haben zugenommen.Woran liegt dies? Ein Grund ist, dass in den vergangenen zehn Jahren immer wieder der ökonomische Untergang in Form von Inflation, Hyperinflation, dramatischen Risiken für Steuerzahler und Sparer, einer neuen Finanzkrise, Siechtum und dem Zusammenbruch der gesamten Geldordnung vorhergesagt wurde. Begründet wurde und wird dies überwiegend mit der EZB-Geldpolitik, weil sie angeblich massiv gegen die marktwirtschaftliche Ordnung verstößt. Finanzkrisen – so diese Sichtweise – zeigen eine Überschuldung von Unternehmen, Banken und Staaten an. Sie müssen daher in Insolvenz gehen, damit auf der Grundlage struktureller Reformen ein neuer, nachhaltiger Aufschwung entstehen kann. Eine expansive Geldpolitik, wie sie die EZB seit 2008 praktiziert, verhindert dies und schafft neue Fehlanreize. Damit sind neue, noch schlimmere Fehlentwicklungen unvermeidbar.Diese Grundüberlegungen wurden schon unmittelbar nach dem Lehman-Konkurs vorgetragen. Die große Mehrheit akzeptierte damals aber noch eine andere Sichtweise: Danach sind Krisen vor allem Liquiditätskrisen, auch wenn die Insolvenz einzelner Schuldner durchaus eine Rolle spielt. Verursacht wird die Krise jedoch von Einlegern und Investoren, die nicht wissen, ob auch “ihre” Schuldner insolvent sind. Der Lehman-Konkurs markierte deshalb den Beginn einer globalen Finanzkrise, weil nun viele, insbesondere Banken, ihre Forderungen in Zentralbankgeld, in Liquidität, umtauschen wollten. So entstand eine systemische Krise, die Schuldner praktisch unabhängig vom Status ihrer tatsächlichen Solvenz erfasste.Seit mehr als 150 Jahren lautet ein Kernsatz liberaler Ökonomik, dass eine Zentralbank gegen dieses Liquiditätsrisiko als Lender of Last Resort versichert. Dies ist weder ordnungswidrig noch inflationär. Es ist nicht ordnungswidrig, weil bei Panik keine Ordnung Bestand hat. Es ist nicht inflationär, weil die von der Notenbank bereitgestellte Liquidität lediglich eine Überschussnachfrage nach Geld befriedigt. Auch in der langen Frist droht keine Inflation, weil nach Ende der Panik die Gläubiger erneut Forderungen gegenüber ihren ursprünglichen, nun wieder als solvent erkannten Schuldnern erwerben. Diese geben die Liquidität dann an die Zentralbank zurück. Die sogenannte “Überschussliquidität” löst sich von selbst auf. AnsteckungseffekteMit der Eurokrise, die nicht nur Banken, sondern auch Staaten traf, wurden Liquiditätsprobleme aber von der Betrachtung ausgeschlossen. Es gab nur noch “Pleite- oder Zombiestaaten oder -banken”. Ansteckungseffekte, also dass 2008/09 die Deutsche Bank wohl insolvent geworden wäre, wenn man die Commerzbank nicht gerettet hätte, spielten keine Rolle mehr. Da die EZB (schlechten) Schuldnern (gutes) Geld zur Verfügung stellte, war die große Inflation vorprogrammiert. Es kam anders: Die Inflationsrate sank und das Abgleiten in die Deflation drohte. In diesem Umfeld beging die EZB angeblich die nächste Todsünde. Sie begann nach Erreichen der Nullzinsgrenze massiv Staatsanleihen zu kaufen. Aus ordnungspolitischer Sicht sind Staatsanleihekäufe aber keine Geld-, sondern Fiskalpolitik. Deshalb wurde der EZB abwechselnd vorgeworfen, nun doch den Ausbruch der großen Inflation zu riskieren, nur hoch verschuldeten Staaten wie Italien helfen zu wollen oder einem falschen Inflationsziel hinterherzulaufen. Außerdem setze diese Politik die Allokationsfunktion des Zinses außer Kraft, was zu Siechtum und neuen Finanzkrisen führen werde, senke Anreize zur Haushaltskonsolidierung und lasse damit die Staatsverschuldung weiter steigen.Aus Sicht der herrschenden Geldtheorie hat die EZB aber – wie andere westliche Notenbanken auch – lediglich das gemacht, was seit Anfang der 80er Jahre Konsens ist: Sie hat den kurzfristigen Zins so gestaltet, dass er mit Preisstabilität vereinbar ist. Unkonventionell war nur, angesichts der Nullzinsgrenze den Preis- durch einen Mengenimpuls zu ersetzen. Mittlerweile ist dies nicht mehr notwendig. Das Kaufprogramm läuft im Dezember aus, und Zinserhöhungen sind angezeigt, falls die Inflationsrate mittelfristig über 2 % klettert.Die Entwicklung gibt der EZB recht: Statt Inflation, Wachstumsschwäche sowie ausufernder privater und staatlicher Verschuldung sind Preisstabilität, wirtschaftliche Erholung, moderate Wachstumsraten bei privaten Krediten sowie Fortschritte bei der Konsolidierung der Staatsfinanzen festzustellen. Dass dennoch weiterhin vor großen Risiken gewarnt wird, liegt daran, dass sich die Richtigkeit der Untergangsprognosen angeblich erst langfristig zeigen wird. Dies kann aber nicht überzeugen, denn für viele der älteren Warnungen ist die lange Frist längst abgelaufen und sie haben sich als falsch herausgestellt. Unklar ist auch, warum die negativen Wirkungen der EZB-Politik erst langfristig sichtbar werden sollten. Wenn die Fehlanreize so dramatisch sind, müssten sie sehr schnell sichtbar werden.Allerdings: Dass die wirtschaftliche Entwicklung der letzten Jahre gut war, heißt nicht, dass es keine Probleme gibt. Drohende Handelskriege, populistische, expansive Fiskalpolitik in der Hochkonjunktur, Angriffe auf die Unabhängigkeit der Notenbanken sowie eine neue Flucht in den sicheren Liquiditätshafen können in eine Rezession, zu höherer Inflation und/oder zu einer neuen Finanzkrise führen. Aber das wäre kein Beweis für eine verfehlte Geldpolitik.Vor allem sollte man dann nicht den Schluss ziehen, im Falle einer neuen Finanzkrise grundsätzlich anders zu handeln. Denn die Alternative bleibt die gleiche wie vor zehn Jahren: der Kollaps der Finanz- und Realwirtschaft. 2008 bietet einen Hauch davon: Obwohl Deutschland an der Insolvenz von Lehman Brothers praktisch nicht beteiligt war und die EZB und andere Notenbanken massiv intervenierten, stieg die deutsche Staatsschuld innerhalb eines Jahres um etwa 100 Mrd. Euro.So lässt sich zum zehnten Jahrestag von Lehman Brothers folgende Bilanz ziehen: Erstens, wir wissen, wie man eine Finanzkrise erfolgreich bekämpft. Das ist Grund für Optimismus, nicht für Verlustängste. Zweitens, nicht jeder Verstoß gegen die “Ordnung” ist falsch und führt zu desaströsen Konsequenzen. Auch das Setzen eines Stents zur Verhinderung eines Herzinfarkts stellt einen Verstoß gegen die Ordnung dar, weil ein gitterförmiges Geflecht in der Nähe des Herzens eigentlich nicht vorgesehen ist. Wir halten die Operation dennoch für sinnvoll, weil die Alternative so drastisch ist. Fundierte DiskussionDies ist die dritte Lehre des Lehman-Konkurses: Bei Ausbruch der nächsten Krise müssen wir mehr über die Alternativen diskutieren. Dass bis heute so negativ über die EZB-Politik geurteilt wird, liegt auch daran, dass sie als “alternativlos” galt. Das ist Unsinn. Es gibt immer eine Alternative. Aber eine fundierte Diskussion über diese Alternative würde verdeutlichen, wie schlecht sie ist. Damit würde der Akzeptanzgrad jener Politik erheblich steigen, die das mit der Alternative verbundene Desaster verhindert hat.—-Adalbert Winkler, Professor Frankfurt School of Finance & Management