Die Vermessung des Papierbergs
Von Jan Schrader, FrankfurtAufgepasst, mitgezählt: Statusinformation zum Berater, Beratungsprotokoll, Geeignetheitserklärung, Produktinformationsblätter, Zinsszenarien, Garantiewerttabelle, Aufklärung zum Datenschutz, Aufklärung zum Ombudsverfahren und schließlich etwa der Versicherungsschein. Es sind bis zu neun Bestandteile der Informationspflicht, die im Versicherungsvertrieb an den Anleger überreicht werden, wie Ralf Berndt aufzählt, Mitglied des Vorstands der Stuttgarter Versicherung. Übersetzt ins DIN-A4-Format ergeben sich annähernd 100 Seiten, sagte er in einer Diskussion auf dem 6. Verbraucherschutzforum der deutschen Finanzaufsicht BaFin.Papierberge sehe sie nicht, führte indes BaFin-Exekutivdirektorin Elisabeth Roegele auf der gestrigen Konferenz in Frankfurt aus. Sie stützte sich auf die Vorgaben des Regelwerks Mifid II für die Wertpapierberatung: Jeweils nicht mehr als drei Seiten für Geeignetheitserklärung, Kostenangaben und Produktinformationsblatt sind demnach notwendig. Mehr Papier komme gleichwohl beim Verkauf mehrerer Produkte und einem Erstgespräch hinzu – und durch Werbebroschüren, wie sie ergänzt. Ist die Regulierung zu streng? Die Antwort wird offenbar anhand der Papiermenge ermessen.Dabei kommt gute Information schlank daher, hatte zuvor Klaus Müller gesagt, der als Vorstand für die deutschen Verbraucherzentralen spricht. Zwar sei der Wissensvorsprung der Finanzbranche gegenüber dem Anleger enorm, wesentliche Informationen seien aber im Prinzip einfach darstellbar: Kosten, Rendite, Sicherheit. Der Verbraucherschützer verweist auf den Nutri-Score im Lebensmittelhandel, der die Fülle der Ernährungsdaten “einfach, zugespitzt, leicht erkennbar, für alle Verbraucherkategorien verständlich” herunterbricht. Für Finanzprodukte sei das aber “leichter gesagt als getan”, entgegnete BaFin-Präsident Felix Hufeld, der einheitlich geschätzte Angaben mit der Atlantikreise von Christoph Kolumbus vergleicht: Hätte er sich nur um ein halbes Grad verrechnet, wäre er in Amerika woanders gelandet.Die Diskussion über die Höhe des Papierbergs führe am Problem vorbei, sagte der EU-Parlamentarier Sven Giegold (Grüne): Weil das Misstrauen in den Finanzvertrieb wegen Interessenkonflikten und des Informationsvorsprungs der Verkäufer groß sei, werde das Beratungsgespräch bürokratisiert. Die Praxis der Vertriebsprovisionen gehöre deshalb auf den Prüfstand, forderte er. Dabei richtete er anders als Verbraucherzentralen-Chef Müller den Blick weniger auf ein Verbot von Provisionen, sondern sprach sich erneut für einen öffentlichen Fonds aus, der alle Bürger an einer Kapitalanlage beteiligt, sofern sie nicht aktiv widersprechen. Eine zu starke Rolle des Staates fürchtet dabei Stuttgarter-Vorstand Berndt. Olaf Langer, Abteilungsleiter für Recht und Steuern beim Sparkassenverband DSGV, führte das Leitbild des mündigen Verbrauchers ins Feld, während Daniel Keller, Vorstandsmitglied der Berliner Volksbank, vor Bevormundung warnte.Die Debatte verlief also nach bekanntem Muster, regte aber auf: Kritik an fehlenden Durchgriffsrechten der BaFin im grauen Kapitalmarkt, am politischen Einfluss der Versicherer und an der Erweiterung der Mifid-Regeln auf Finanzanlagenvermittler wurde mit so viel Verve von Zuhörern geäußert, dass sich statt der Papiermenge ein anderes Maß anbietet: die in der Online-Welt verbreiteten Emojis, mit denen sich die komplexe Mischung aus Erregung und Wut verbraucherfreundlich darstellen ließe. Mehr Informationsdichte geht nicht – Finanzprodukte sind dafür leider zu kompliziert.——Auf der BaFin-Konferenz zum Verbraucherschutz wird der Aufwand von Regulierung in DIN-A4-Einheiten beziffert.——