Die virtuelle Hauptversammlung - ein Zukunftsmodell?

Rechtsrahmen ermöglicht hybride Veranstaltungen, aber mit spürbaren rechtlichen Risiken - Es wird spannend, wann und ob es zu einer Reform kommt

Die virtuelle Hauptversammlung - ein Zukunftsmodell?

Die Hauptversammlungssaison 2020 begann zunächst ohne besondere Vorkommnisse. Die Thyssen-Hauptversammlung fand, wie geplant, Ende Januar statt. Fragen zu Corona wurden von Aktionären noch nicht gestellt und auch Desinfektionsmittelspender waren noch nicht im Einsatz. Die Hauptversammlungen im Februar verliefen ebenso ohne rechtliche Maßnahmen. Desinfektionsmittelspender wurden von den Unternehmen regelmäßig freiwillig gestellt. Aktionärsfragen zu Corona gehörten bereits zum Standard. Es ging aber nicht um die Sicherheit der Aktionäre, sondern um die Auswirkungen und Risiken für die Geschäftslage. Im März überschlugen sich schließlich die Ereignisse: Die Hallen waren gemietet, die Versammlungen einberufen, die Planungsparameter begannen sich jeden Tag zu ändern, Hauptversammlungen wurden reihenweise verschoben. Die MVV-Hauptversammlung (HV) fand am 13. März als letzte Präsenz-HV mit erheblichen Infektionsschutzmaßnahmen in Mannheim statt.Der Gesetzgeber handelte schnell; bereits am 27. März wurde das “Gesetz über Maßnahmen im Gesellschafts-, Genossenschafts-, Vereins-, Stiftungs- und Wohnungseigentumsrecht zur Bekämpfung der Auswirkungen der Covid-19-Pandemie” (Covid-19-Gesetz) verabschiedet. Nur einen Monat später, am 28. April, wurden die Hauptversammlungen von Bayer und Hochtief präsenzlos auf der Basis des Covid-19-Gesetzes durchgeführt.Bis heute wurden über 20 virtuelle Hauptversammlungen ohne nennenswerte Zwischenfälle abgehalten. Man könnte meinen, es gäbe im Moment keine Alternative zur virtuellen Hauptversammlung. Dem ist aber scheinbar nicht so: Erstaunlicherweise ist es einer Gesellschaft in der zweiten Maiwoche gelungen, eine Genehmigung für eine Präsenz-Hauptversammlung mit bis zu 50 gleichzeitig anwesenden Personen in München zu bekommen.Aktionärsportale haben bei der Gestaltung der virtuellen Hauptversammlung eine zentrale Bedeutung. Bei den meisten Gesellschaften ist das Portal das einzige Medium für die Frageneinreichung, die Widerspruchserklärung und die Mitverfolgung der Fragenbeantwortung. Deutlich kürzere DauerDie Befürchtung, dass die neue Möglichkeit zur Vorabeinreichung der Fragen deren Anzahl signifikant erhöhen würde, hat sich bisher nicht bestätigt. Die Anzahl der Fragen wich kaum von der bei Präsenz-Hauptversammlungen der Vorjahre ab. Die Squeeze-out-HV der Comdirect mit über 500 Fragen muss als Sonderfall eingestuft werden.Die Dauer der virtuellen Hauptversammlungen ist bisher deutlich kürzer, als die der Präsenz-Hauptversammlungen. Der Wegfall von Redebeiträgen und Nachfragen und kürzere Reden des Versammlungsleiters sowie des Vorstands führen dazu, dass die Versammlungen bisher nach zwei bis sechs Stunden beendet waren. Bei einzelnen Gesellschaften dauerte die Versammlung im Vergleich zum Vorjahr nur die Hälfte der Zeit.Alle Emittenten nutzen die Möglichkeit, eine Frist für die Voreinreichung der Fragen zu setzen. Dies erleichtert den Gesellschaften die Fragenbeantwortung im Vorfeld und sorgt für weniger beziehungsweise keine Unterbrechungen. Bisher nutzte weniger als die Hälfte der Unternehmen die maximal mögliche Frist der zwei vollen Tage. Die redaktionellen Freiheiten, die sich aus dem Gesetz ergeben, wurden bisher nicht genutzt. Es wurden alle Fragen beantwortet, lediglich bei Doppelungen zusammengefasst.Dem von einigen Aktionären geäußerten Wunsch, dass die Vorstands- und Aufsichtsratsreden vorab veröffentlicht werden sollten, entsprachen bis jetzt nur wenige Gesellschaften. Man wolle, so vereinzelte Begründungen, so aktuell wie möglich die Reden unter den sich derzeit so schnell verändernden Rahmenbedingungen noch anpassen können. Diese Begründung dürfte die Aktionäre kaum zufriedenstellen. Für weiteren Unmut sorgt die vielfach von Gesellschaften genutzte, verkürzte Einberufungsfrist für die virtuellen Hauptversammlungen. Diese führt für die Aktionäre zu erheblichen Problemen bei der fristgerechten Anmeldung.Das durch die Covid-19-Gesetzgebung stark eingeschränkte Antragsrecht wird von den Gesellschaften unterschiedlich behandelt. Ein Teil lässt die Anträge gar nicht zu, der andere veröffentlicht diese und berücksichtigt sie als “gestellt”, sofern der Antragsteller ordnungsgemäß angemeldet ist. Aber auch bei dieser Lösung ermöglichen einige Emittenten die Weisungserteilung, andere hingegen nicht.Vor dem Hintergrund des Wissens, dass diese Anträge nicht zur Abstimmung gelangen, könnte dies den Anschein von Pseudo-Aktionärsfreundlichkeit erwecken. Würde man diese Anträge auch als gestellt betrachten, wenn sie eine Chance auf eine Abstimmung oder gar Mehrheit hätten? Viele WidersprücheVermutlich wird die Saison 2020 auch die mit den meisten Widersprüchen zur Beschlussfassung sein. Nach unserer Beobachtung gibt es keine Gesellschaft, die nicht Beschlussfassungswidersprüche erhalten hätte. Für manche Unternehmen sind das die ersten Widersprüche ihrer Firmengeschichte! Außergewöhnliche Beschlussfassungspunkte braucht es dazu nicht. Ob die Widerspruchsmöglichkeit nur aufgrund der einfachen elektronischen Handhabung im Portal so aktiv genutzt wurde oder ob dies auch die meistbeklagte HV-Saison seit Langem sein wird, bleibt abzuwarten.Die Gestaltung der virtuellen Hauptversammlungen wurde in vielen Gesellschaften intensiv diskutiert. Die Kommunikations- und Marketingabteilungen regten an, multimediale Möglichkeiten umfassender zu nutzen, die Rechts- und Investor-Relations-Abteilungen tendierten eher zu Sachlichkeit und klassischen Formaten. Befremdliche WirkungBisher kann man feststellen, dass der Inhalt und nicht der multimediale Event im Fokus standen. Die Bühne war, wie bei Presse- oder Analystenveranstaltungen, meist nur mit drei bis vier Personen (Versammlungsleiter, Notar und ein bis zwei Vorstände) besetzt. Es gab aber auch virtuelle Hauptversammlungen mit knapp 30 Personen auf der Bühne, bei denen der komplette Vorstand und Aufsichtsrat anwesend waren. Prinzipiell ist festzustellen, dass eine große Anzahl von Personen auf der Bühne ohne aktive Funktion bei der virtuellen HV etwas befremdlich wirkt.Viele Aktionäre beklagen bei der aktuellen Gestaltung den Verlust ihrer Rechte sowie die begrenzten Möglichkeiten der öffentlichen Einflussnahme. Darüber hinaus fehlen den virtuellen Hauptversammlungen auch Elemente wie Spannung, Spontaneität und Überraschung.Die Gesellschaften finden zunehmend Gefallen an dem neuen Format. Das ist aus Unternehmenssicht nicht überraschend. Die virtuelle Hauptversammlung auf der Basis der Covid-19-Gesetzgebung erleichtert für die Emittenten die Planbarkeit sowie die Fragenbeantwortung und gewährt darüber hinaus eine weitgehende Rechtssicherheit.Die Covid-19-Gesetze sind zeitlich befristet. Insofern muss man in der nächsten Saison, vorausgesetzt, Großveranstaltungen sind wieder erlaubt, zur Präsenzveranstaltung im alten Rechtsrahmen zurückkehren. Darüber, dass das bisherige Set-up von Hauptversammlungen reformbedürftig ist, sind sich die Unternehmen und deren Aktionäre prinzipiell einig. Aktionäre begrüßen die Möglichkeit der Online-Teilnahme, jedoch nur unter der Wahrung der Aktionärsrechte.Die Forderungen der Aktionäre inkludieren interaktive Frage-Antwort-Möglichkeiten, ein Rederecht wie auch die Antragsrechte. Eine hybride Hauptversammlung, die den Onlineteilnehmern Frage- und Antragsrechte gewährt, findet bei den Aktionären und deren Vertretern durchaus Zustimmung. Spannend wird, ob man Redebeiträge online zulässt und wenn ja, wie man damit umgeht, wenn der Redner verbotene “Uniformen” trägt oder unbekleidet ist, um nur einige potenzielle Probleme zu nennen. Bei einer Präsenzveranstaltung gibt es hierfür bewährte Sicherheitskonzepte. Einen Mittelweg findenDer Gesetzgeber muss einen Mittelweg finden, der die Rechteausübung auch vom heimischen PC aus ermöglicht, ohne dabei die rechtliche Veranstaltungssicherheit in Frage zu stellen. Dabei muss geklärt werden, unter welchen Bedingungen eine virtuelle Fragemöglichkeit, gegebenenfalls sogar ein Rederecht, durch die Versammlungsleitung entgegengenommen aber auch abgelehnt werden kann, ohne dabei “Klassenunterschiede” zwischen präsent oder online teilnehmenden Aktionären zu schaffen. Zeitlich wie inhaltlich nicht planbare und unbeherrschbare Hauptversammlungen würden insgesamt für keinen Aktionär einen Zugewinn darstellen.Der bestehende Rechtsrahmen ermöglicht eine hybride Hauptversammlung, aber wie Unternehmensvertreter zu Recht zu bedenken geben, mit erheblichen rechtlichen Risiken. Insofern wird es spannend, wann und ob es zu einer Reform kommt. Christof Schwab, Director Business Development bei Computershare Deutschland und Ingo Wolfarth, Key Account Manager und Senior Consultant bei Computershare Deutschland