AUS DER KAPITALMARKTFORSCHUNG

Die Zentralbanken haben den Zins auf dem Gewissen

Ursache für wachsende Ungleichheit und Schädigung der Banken - Konzept für geordneten Ausstieg aus ultralockerer Geldpolitik dringend nötig

Die Zentralbanken haben den Zins auf dem Gewissen

Von Thomas Mayer und Gunther SchnablSeit einiger Zeit schwelt eine Kontroverse über das Für und Wider der ultralockeren Geldpolitiken der großen Zentralbanken. Die Zentralbanken begründen historisch niedrige Zinsen und umfangreiche Ankäufe von Vermögenswerten mit niedriger Konsumentenpreisinflation und schwachem Wachstum. Die Kritiker halten dagegen die Zentralbanken für die Niedrigzinsen für verantwortlich. Sie verweisen auf gesellschaftlich unerwünschte Nebeneffekte des billigen Geldes wie eine wachsende Ungleichheit, eine Schädigung der Banken sowie die “Zombifizierung” ganzer Volkswirtschaften.Unbestritten ist, dass seit Ende der 1980er Jahre die Zinsen in den Industrieländern tendenziell gefallen sind. Klar ist auch, dass die geldpolitischen Entscheidungen der großen Zentralbanken über mehr als 30 Jahre hinweg asymmetrisch waren: In Krisen wurden die Zinsen stark gesenkt, um die Finanzmärkte zu stabilisieren und Arbeitslosigkeit zu verhindern. Hingegen wurden in den Erholungsphasen nach den Krisen die Zinsen nicht mehr im gleichen Umfang wieder angehoben. Ebenso sind seither in den Industrieländern die Produktivitätsgewinne und das Wachstum im Trend zurückgegangen.In der Kontroverse geht es um Ursache und Wirkung des Zinsverfalls. Auf der einen Seite argumentieren keynesianische und neoklassische Ökonomen, dass strukturelle Faktoren wie hohes Sparen und eine sinkende Produktivität der Investitionen die Zentralbanken zu Zinssenkungen quasi gezwungen haben. Im Gegensatz dazu führen Vertreter der österreichischen Schule der Nationalökonomie an, dass die Zentralbanken über die Absenkung der Geldmarktzinsen und weitere Maßnahmen wie Wertpapierkäufe und “Forward Guidance” die Zinsen in die Knie gezwungen hätten. Sparschwemmen-Hypothese . . .Eine zentrale Rolle für die Diskussion spielt der Begriff der globalen Sparschwemme, der im Jahr 2005 vom späteren US-Zentralbankpräsidenten Ben Bernanke geschaffen wurde, nachdem die US-amerikanische Zentralbank Fed in Reaktion auf das Platzen der Dotcom-Blase (2000) den Leitzins auf ein historisch niedriges Niveau von 1,0 % gesenkt hatte. Bernanke führte hohe Kapitalzuflüsse und niedrige Zinsen in den USA darauf zurück, dass in einigen Industrieländern wie Japan alternde Bevölkerungen mehr für den Ruhestand sparten und diese Ersparnisse im hoch entwickelten Kapitalmarkt der USA anlegen wollten. Zudem argumentierte Bernanke, dass einige ostasiatische Volkswirtschaften nach der Asienkrise mehr Dollar halten wollten, um sich gegen neue Währungskrisen abzusichern.Bernanke verlagerte damit die Ursachen für die niedrigen Zinsen in den USA, die dort zu dieser Zeit bereits einen Boom auf den Immobilienmärkten anheizten, in das Ausland. Er erwähnte nicht, dass die Zinssenkungen der Fed zu starken Kapitalflüssen nach Ostasien geführt hatten, wo die Länder den Wechselkurs gegenüber dem Dollar stabilisierten. Die ostasiatischen Zentralbanken kauften damit die zugeflossenen Dollar auf und legten diese wieder in US-amerikanischen Staatsanleihen an. . . . und säkulare StagnationIm Jahr 2007 mündete der Immobilienboom in den USA in die Hypothekenmarktkrise. Die Federal Reserve Bank senkte den Leitzins nun noch tiefer auf nahe null und kaufte in großem Umfang Staatsanleihen und andere Vermögenswerte. Das Wachstum erholte sich jedoch nur zögerlich. Daraufhin kombinierte der ehemalige US-Finanzminister und Harvard-Professor Larry Summers im Jahr 2013 die These der Sparschwemme mit der These der säkularen Stagnation. Letztere hatte Alvin Hansen in den 1930er Jahren mit Blick auf die lange Stagnation in der Folge der Weltwirtschaftskrise entwickelt. Er argumentierte, dass wichtige Wachstumsfaktoren wie technischer Fortschritt und Bevölkerungswachstum an Dynamik verloren hätten und chronischer Nachfragemangel bestehe, der nur durch zusätzliche Staatsausgaben geheilt werden könne.Summers argumentierte für das neue Jahrtausend, dass die realen Investitionen zurückgegangen seien, weil das Potenzial für Produktivitätsgewinne strukturell abgesunken sei. Die boomenden Unternehmen der Internetbranche bräuchten weniger Kredite für Investitionen. Zudem würde eine wachsende Ungleichheit zugunsten der Vermögenden zu einer wachsenden Sparquote beitragen. Aus der Sparschwemme und einer sinkenden Nachfrage nach Investitionen leitete Summers einen sinkenden Gleichgewichtszins ab.Vertreter der Federal Reserve behaupteten daraufhin, dass die strukturell erlahmenden Wachstumskräfte und ein damit verbundener sinkender Inflationsdruck Zinssenkungen notwendig machten. Implizit wurde dadurch kommuniziert, dass spätestens seit den 1990er Jahren alternde Gesellschaften und ein weltweit sinkendes Wachstumspotenzial die Zentralbanken quasi gezwungen hätten, die Zinsen immer weiter abzusenken. Unerwünschte Nebeneffekte der anhaltend niedrigen Zinsen wie Übertreibungen auf den Finanz- und Immobilienmärkten sowie inflationsbereinigt negativ verzinste Ersparnisse wurden damit aus dem Verantwortungsbereich der Währungshüter heraus verlagert. Selektive WahrnehmungDie Interpretation von geringen Zinsen als Ergebnis höherer Ersparnis und säkularer Stagnation ergibt sich aus den in der Wissenschaft weit verbreiteten neokeynesianischen Modellen, die das Preisniveau aus der Kapazitätsauslastung einer Volkswirtschaft ableiten. Wenn eine Gesellschaft altert und/oder die Einkommensungleichheit steigt, sinkt die Konsumneigung, weil alle mehr für den Ruhestand und reiche Menschen überhaupt mehr sparen. Die Unternehmen investieren weniger. Die Nachfrage und die Auslastung der Kapazitäten sinken, so dass der Preisdruck abnimmt. Um diesen Effekt zu kompensieren, muss in der Logik dieser Modelle die Zentralbank die Zinsen reduzieren, um über mehr Investitionen und Konsum die Kapazitätsauslastung und die Preise wieder nach oben zu treiben.Die von den Modellen prognostizierten Wirkungen sind jedoch nicht eingetreten. Seit den 1980er Jahren sind die Investitionen trotz der deutlichen Zinssenkungen der Zentralbanken eher zurückgegangen statt – wie prognostiziert – angestiegen. Außerdem ist die Inflation auf niedrigem Niveau stabil geblieben. Die Vertreter der neokeynesianischen Schule erklären dies meist damit, dass die Maßnahmen nicht ausreichend dosiert waren. Eine andere Erklärung ist jedoch, dass die neokeynesianischen Modelle fehlspezifiziert sind. Sie ignorieren den Umstand, dass Investitionen meist über die Kreditvergabe der Banken mit neuem Geld finanziert werden, ohne dass vorher Geldersparnisse gebildet werden müssen. Und sie gründen auf einer Inflationstheorie, für die es schon seit einem Jahrzehnt keine empirische Unterstützung mehr gibt.Zur Erklärung der neokeynesianischen Fehlprognosen hilft die österreichische Konjunkturtheorie nach Ludwig von Mises und Friedrich August von Hayek. Dort kommt es zu einer übermäßigen Kreditvergabe der Geschäftsbanken, wenn die Zentralbank die Zinsen zu stark senkt. Viele Investitionsprojekte mit vergleichsweise niedriger erwarteter Rendite werden angestoßen, was zunächst zu einem Aufschwung führt. Die Gewinne der Unternehmen und Banken steigen und mit ihnen die Aktienkurse. Da die Zinsen auf Bankeinlagen niedrig sind, lohnt es sich, in Aktien oder Immobilien zu investieren. In der Euphorie des Aufschwungs können sich die Vermögenspreise von der realen Wirtschaftsentwicklung lösen. Es entstehen Finanzpreisblasen. ReinigungsprozessWenn in einer späteren Phase des Booms die freien Kapazitäten auf dem Arbeitsmarkt ausgelastet sind, steigen die Löhne. Die Unternehmen müssen die Preise erhöhen, so dass die Inflation steigt. Dies zwingt schließlich in der Theorie die Zentralbank zu Zinserhöhungen, um den Inflationsdruck zu dämpfen. Sie hebt damit die Messlatte an, mit der die Rentabilität aller realisierten und geplanten Investitionsprojekte gemessen wird. Viele Investitionsprojekte müssen abgebrochen werden. Es kommt zu Abschwung und Rezession. Der Abschwung bedeutet einen Reinigungsprozess, weil Arbeitskräfte und Kapital, die in Investitionsprojekten mit geringer Rendite gebunden sind, freigesetzt werden. Diese Ressourcen können im kommenden Aufschwung eine bessere Verwendung finden.Während die neokeynesianischen Modelle fälschlicherweise davon ausgehen, dass die Zentralbanken über den Zins die Investitionen direkt und ohne Mitwirkung der Banken steuern können, spielt im österreichischen Modell der Bankensektor bei der Übertragung der Zinsimpulse der Zentralbanken die entscheidende Rolle. Die übermäßige Kreditvergabe der Banken, die durch niedrige Zinsen und Kreditverbriefung begünstigt wurde, erklärt z. B. den übermäßigen Schuldenaufbau bis zur Finanzkrise von 2007/2008, ihre durch die Krise bewirkte Schwäche die schwache Wirtschaftsentwicklung danach. Regulierung soll es richtenDer keynesianische Ökonom Hyman Minsky hat vorgeschlagen, Exzesse im Kreditboom durch strengere Regulierung einzudämmen. Doch mehr Regulierung und höhere Eigenkapitalanforderungen schränken die Gewinnmöglichkeiten der Banken ein. Hält die Zentralbank zudem in der Krise die Zinsen anhaltend tief oder sogar negativ, dann schmelzen die Zinsmargen der Banken dahin. Da für viele Banken die Zinsüberschüsse traditionell die wichtigste Einkommensquelle sind, wird der Bankensektor von der geldpolitischen Krisentherapie geschwächt. Die Kreditvergabe an die Unternehmen gerät ins Stocken.Aus neokeynesianischer Sicht sind eine Ersparnisschwemme und säkulare Stagnation für die Niedrigzinsen verantwortlich. Wir haben schon auf die Fehlspezifikation und die Prognosefehler der Modelle dieser Schule hingewiesen. Wie steht es aber mit den angeblichen Ursachen?In unserer Untersuchung finden wir keine empirische Evidenz für eine Sparschwemme aufgrund alternder Bevölkerungen. Betrachtet man den Anstieg des Anteils der Menschen über 64 an der gesamten Bevölkerung in den OECD-Ländern und die Veränderung des Sparverhaltens der privaten Haushalte in der Zeit von 1995 bis 2018, dann findet man den behaupteten Zusammenhang nicht (siehe Grafik). Beispielsweise ist im schnell alternden Japan die Sparquote der Haushalte nicht gestiegen, sondern im Gleichlauf mit dem Zins von ca. 17 % im Jahr 1980 auf heute ca. 3 % gefallen. Statt der Sparquote der Haushalte ist in einigen Ländern wie Deutschland oder Japan die Sparquote der Unternehmen angewachsen. Das kann darauf zurückgeführt werden, dass die kontinuierlich sinkenden Zinsen die Finanzierungsbedingungen der Unternehmen deutlich verbessert haben. Große exportorientierte Unternehmen in Japan und Deutschland haben zudem zuletzt von starken Abwertungen von Yen und Euro profitiert.Wir finden auch keine Anhaltspunkte für den von Summers und von Weizsäcker angenommenen Rückgang der Grenzproduktivität des Kapitals in den Industrieländern, die aus Sicht der neoklassischen Schule der Nationalökonomie den realen Zins bestimmt. Daten für die USA, Japan und Deutschland zeigen ein im Zeitraum von 1990 bis 2018 stabiles Verhältnis von Bruttoinvestitionen zur Veränderung des Outputs. Die Unternehmen in den Industrieländern haben also die niedrigen Zinsen für Fremdkapital nicht genutzt, um zusätzliche Investitionen mit geringeren Renditeerwartungen zu finanzieren. Auch finden wir keinen Beleg dafür, dass eine zunehmende Alterung der Bevölkerung mit einer nachlassenden Wachstumsdynamik verbunden wäre (siehe Grafik). Dagegen finden wir in den von uns untersuchten Industrieländern eine Zunahme von (mit Schulden finanzierten) Finanzinvestitionen der Unternehmen, insbesondere in den USA. Merkliche ZombifizierungUnsere Analyse zeigt auch, dass die mit niedrigen Zinsen verbundene Subventionierung von Unternehmen in den USA, der Eurozone und Japan mit einem Rückgang des Wachstums des Produktionspotenzials einhergegangen ist. Wir führen das auf eine “Zombifizierung” einer wachsenden Anzahl der Unternehmen zurück: Die Banken verlängern Kredite an wenig renditeträchtige Unternehmen, weil sie Kreditausfälle fürchten. Die nachsichtige Kreditvergabe der Banken zu anhaltend günstigen Zinsen verleitet die Unternehmen dazu, notwendige Restrukturierungen zu unterlassen. Gleichzeitig werden die Banken durch günstige Kredite der Zentralbank gestützt.Dadurch kann zwar Arbeitslosigkeit verhindert werden. Die Arbeitslosenquoten sind in vielen Industrieländern auf historische Tiefstände gefallen. Doch es sinken die durchschnittlichen Arbeitsproduktivitätsgewinne, so dass das reale Wachstum abnimmt. Da die Arbeitsproduktivitätsgewinne Grundlage für reale Lohnerhöhungen sind, kommen die realen Löhne breiter Bevölkerungsschichten unter Druck. Wenn Unternehmen dies antizipieren, werden sie ihren Kapitalstock nicht weiter ausbauen, weil sie keinen Anstieg der Nachfrage erwarten. Die “säkulare Stagnation” ist aus dieser Sicht selbst gemacht, weil immer mehr Arbeitskräfte in Unternehmen mit relativ geringer Grenzleistungsfähigkeit gebunden werden.Wenn Unternehmen aufgrund günstiger Finanzierungskosten und aufgrund eines geringen Anstiegs der Löhne weiter Gewinne machen, aber nicht investieren wollen, dann wird zunehmend in den Finanzmärkten investiert. Kleine und mittlere Unternehmen können beispielsweise Immobilien erwerben, während große Unternehmen die eigenen Aktien zurückkaufen. Aktienrückkäufe erhöhen das Kurs-Gewinn-Verhältnis, das als Indikator für die Leistungsfähigkeit des Managements dient. Die Gehälter des hohen Managements können damit stark steigen, während die Löhne der Arbeiter und Angestellten unter Druck bleiben. Die Einkommensungleichheit steigt. Ebenso steigt die Vermögensungleichheit, wenn die anhaltend niedrigen Zinsen die Vermögenspreise nach oben treiben. Rege M&A-TätigkeitDarüber hinaus haben in dem globalen Niedrigzinsumfeld die Übernahmen und Fusionen stark zugenommen. Dank der günstigen Refinanzierungsbedingungen bei der Emission von Wertpapieren konnten Unternehmen (z. B. Bayer) deutlich höhere Preise für die übernommenen Unternehmen (z. B. Monsanto) bezahlen. Bei anhaltend eingetrübten Wachstumsperspektiven der Weltwirtschaft schaffen Fusionen und Übernahmen eine Marktmacht, die Unternehmen für die Erhöhung der Preise nutzen können. Zudem wächst die Macht gegenüber den Gewerkschaften bei Lohnverhandlungen und gegenüber kleinen und mittleren Zuliefererunternehmen bei Verhandlungen über die Preise von Vorprodukten. Die zunehmende Monopolisierung in der Wirtschaft trägt zu mehr Ungleichheit bei.Wir halten folglich die Zentralbanken für den Tod des Zinses für verantwortlich. Das ist ein schweres Vergehen, denn der Kreditzins ist der wichtigste Preis in einer Volkswirtschaft. Er bringt die Zeitpräferenz einer Gesellschaft mit ihrer Fähigkeit, auf effiziente Weise Kapital zu schaffen, in Einklang. Er stellt eine effiziente Allokation der Ressourcen sicher. Es ist Anmaßung von Wissen, wenn Zentralbanken behaupten, den richtigen Wert für diesen Zins festlegen zu können.Die Zentralbanken haben vielmehr durch ihre Zinspolitik hohe Vermögenspreise, eine wachsende Vermögens- und Einkommensungleichheit sowie ein geringes Wachstum begünstigt. Inzwischen haben sich viele Zombieunternehmen und hoch verschuldete Staaten an das Niedrigzinsumfeld angepasst. Die Verschuldung ist weltweit auf ein Rekordniveau gestiegen. Zudem wurde in vielen Ländern der Bankensektor so geschwächt, dass ein schneller Ausstieg aus dem Niedrigzinsumfeld ohne größere Verwerfungen kaum mehr möglich erscheint. Es ist deshalb an der Zeit, darüber nachzudenken, wie ein geordneter Ausstieg aus den Null- und Negativzinspolitiken erfolgen könnte.