Robert Ertl und Andreas Schmidt

„Diese Ent­wick­lung fördert die Aktienkultur“

Die Vorstände der Bayerischen Börse sehen einen Wandel der Aktienkultur in Deutschland. Die Wertschätzung von Wertpapieren wird demnach nicht verpuffen wie am Ende des Neuen Marktes.

„Diese Ent­wick­lung fördert die Aktienkultur“

Von Michael Flämig, München

Die Bayerische Börse bewertet den aktuellen Run der Bundesbürger auf Wertpapiere in Deutschland positiv. „Dies ist eine Entwicklung, die die Aktienkultur in Deutschland ganz grundsätzlich fördert“, sagen Robert Ertl und Andreas Schmidt im Gespräch mit der Börsen-Zeitung. Denn im Gegensatz zur Euphorie des Neuen Marktes, als ein angebliches Recht auf Aktienzuteilung bei Emissionen ein wichtiges Thema gewesen sei, wüssten die heutigen jungen Aktionäre, dass sie für ihr Geld hart arbeiten müssten, erklärt Schmidt. Die neue Klientel sei wohl auch leidensfähiger bei möglichen Kursrückgängen, ergänzt Ertl.

„Übergeordneter Trend“

Der entscheidende Faktor für den aktuellen Boom sei nicht die Corona-Pandemie, betont Ertl: „Schon seit dem Jahr 2016 steigt die Zahl der Wertpapierdepots in Deutschland.“ Zwar sei laut der Statistik der Bundesbank in letzter Zeit eine zusätzliche Dynamik in diese Bewegung hineingekommen, doch gebe es einen übergeordneten Trend. Treiber sei erstens der niedrige Zinssatz. Die Bundesbürger müssten mittlerweile bei Hunderten Banken Negativzinsen zahlen. „Zweitens haben viele Jüngere erkannt, dass die Rente nicht sicher ist“, sagt Ertl. Dies lasse sich beispielsweise an dem stark steigenden Angebot von ETF-Sparplänen ablesen. Drittens hätten jüngere Anleger als neue Klientel die Börse für sich entdeckt. Technologiewerte und Kryptowährungen, die über Exchange-Traded Commodities (ETCs) verbrieft würden, seien unter den meistgehandelten Werten.

Die jüngeren Leute träfen auf die Neobroker, die ihnen erlaubten, mit wenig Geld und teils komplett kostenfrei erste Erfahrungen mit Wertpapieren zu machen, sagt Ertl. Dies sei ebenfalls ein Treiber für die Zahl der Trades im deutschen Retailmarkt. „Die Aufwärtsentwicklung der Neobroker ist noch nicht zu Ende“, lautet seine Überzeugung. Es etablierten sich immer neue Player am Markt. Einer Oliver-Wyman-Studie zufolge werde die Zahl der Selbstentscheider, die Wertpapiere ohne Hilfe eines Beraters handelten, weiter wachsen. Die Volatilität der Märkte erhöhe die Trade-Zahl zusätzlich.

„Uns geht es sehr gut“

Die Börse in München profitiert von dem regen Handel. „Uns geht es sehr gut, vor allem was Gettex betrifft“, erklärt Ertl. Der Handelsplatz, der vor allem aktivere Trader unter anderem mit Neobrokern zusammenbringt, habe den Umsatz in Aktien und ETFs im Vergleich zum letzten Jahr mehr als verdreifacht: „Die Zahl der Trades hat sich in den ersten drei Quartalen sogar mehr als verfünffacht.“ Dies zeige, dass die gehandelten Ordergrößen wegen der gesunkenen Kosten pro Trade kleiner seien als früher, ergänzt Schmidt. Beispielsweise betrügen bei den ETF-Sparplänen auf Basis von Aktien die Einstiegsaufträge 25 Euro monatlich. Ertl zufolge läuft der Großteil der Trades über Aktien und ETFs: „Zertifikate spielen eine untergeordnete Rolle.“ Auch dies zeige, dass die jungen neuen Aktionäre keineswegs hauptsächlich Zocker seien.

Der Handel mit Produkten, die auf Kryptowährungen beruhten, sei rege, sagt Ertl: „Das ist ein Segment, das die Anleger spannend finden.“ Daher habe die Börse in München auf der Gettex-Website einen eigenen Bereich eingerichtet, auf dem die Krypto-ETCs abgebildet würden, damit man sie schneller finde. Dass Stuttgart mit der Bison App offenbar erfolgreich einen anderen Weg geht, irritiert den Vorstand nicht. Jeder Anleger solle alles aus seinem eigenen Depot heraus handeln, lautet seine Philosophie. Es sei bequemer, nicht über verschiedene Applikationen zu traden. In Absprache mit den wichtigsten Kunden gehe die Börse München daher den Weg, die Handelbarkeit von Kryptowährungen über ETCs herzustellen. Schmidt betont: „Wir sind neutral. Es wird gehandelt, was eine ISIN hat.“ Schmidt hat dabei unter anderem die Nachhaltigkeit von Finanzdienstleistungen im Blick. Auch für eine Bit­coin-Transaktion gelte: Der Strom komme nicht aus der Steckdose.

Die Diskussion über eine Veränderung des Börsenhandels durch die Blockchain-Technologie beobachtet die Börse München dem eigenen Bekunden nach aus einer Beobachter- und Analyseposition. „Uns ist nicht 100-prozentig klar, wo der echte Use Case ist“, sagt Ertl. Man sehe daher nicht die Notwendigkeit, ein hervorragendes Set-up, bei dem man für 0 Euro sofort traden könne, ohne Not zu ändern.

Ertl und Schmidt geben sich mit den Steigerungen von Umsatz und Trades in den Jahren 2020 und 2021 nicht zufrieden. Die Börse wolle die Zahl der Orders auch in Zukunft deutlich nach oben schrauben, sagt Ertl. Dabei komme man bei ausländischen Brokern Schritt für Schritt voran. Außerdem habe die Börse die Chance, mit existierenden Kunden ins Ausland zu expandieren – so hatte Scalable Capital kürzlich angekündigt, die drei Märkte Spanien, Italien und Frankreich zu erschließen.

Der Fokus liege jedoch nicht auf dem Ausland, so Ertl. Vielmehr wolle die Börse vor allem im Kernmarkt Deutschland zusätzliche Adressen anbinden, mit den bestehenden Kunden das Angebot weiter ausbauen und die Zahl der Emittenten erhöhen. Aktuell sind 26 Banken an Gettex angeschlossen, es fehlen aber noch Adressen wie Consorsbank, Onvista Bank und die Volks- und Raiffeisenbanken via DZ Bank. Es sei nach wie vor nicht einfach, in der Ordermaske der Bankkunden unter die Top 3 zu kommen: „Wir müssen dafür ja etablierte Anbieter verdrängen.“ Man gebe aber nicht auf. Gelistet seien 6250 Aktien und mehr als 2000 ETPs, davon 1900 Exchange-Traded Funds. Für den Zertifikatehandel habe man einen innovativen Filter als Entscheidungshilfe auf der Website platziert.

Die Bayerische Börse sei weder mit einer Tochter- noch mit einer Muttergesellschaft Marktteilnehmer und daher eine reine Börse, betont Schmidt: „Dieses Set-up ist Teil unserer DNA.“ Dazu gehöre auch, dass die Börse auch ein Primärmarkt sei. Im Börsensegment M:access seien 68 Unternehmen notiert. Im laufenden Jahr seien bisher fünf Unternehmen hinzugekommen, außerdem habe es zwei Kapitalerhöhungen mit öffentlichem Angebot gegeben.

„Finanzplatz gut aufgestellt“

Zufrieden zeigt sich Ertl auch mit dem Handelssegment Max.One, das die eher traditionell orientierte Kundschaft bedient: „Wir haben im Jahr 2021 eine sehr positive Entwicklung.“ Das hohe Umsatzniveau des vergangenen Jahres sei leicht erhöht worden. Beide Börsenplätze ergänzten sich hervorragend.

Es laufe auch wirtschaftlich sehr gut, sagt Ertl. Schmidt, der seit 1994 für die Börse in München arbeitet, ist mit dem Ergebnis ebenfalls hochzufrieden: „Ich habe bisher noch nicht erlebt, dass die Börse so gut wahrgenommen wird und geschäftlich so ausgeprägt erfolgreich ist.“ Für das operative Ergebnis 2020 gelte: „Der Turnaround ist geglückt.“ Es seien also operativ schwarze Zahlen geschrieben worden. Das Bilanzergebnis inklusive der Anlageerträge, das im Jahr 2019 rund 3 Mill. Euro betrug, sei gesteigert worden – der Abschluss 2020 ist noch nicht im Bundesanzeiger veröffentlicht.

Im laufenden Jahr verzeichne die Börse eine Verstetigung der operativen Entwicklung: „Das ist bisher ein positives Geschäftsjahr.“ Beide Manager betonen, dass die Eigenständigkeit der Münchner Börse erhalten bleibe.

München sei weiterhin ein attraktiver Standort für Unternehmen, stellt Schmidt fest, der auch Sprecher der Finanzplatz München Initiative ist. Google, Apple und Microsoft siedelten sich an der Isar an, weil die Infrastruktur auch hinsichtlich der Universitäten hervorragend sei: „Der Finanzplatz München ist gut aufgestellt und wird seine vorhandene Stärke weiter ausspielen.“ Ertl weist darauf hin, dass interessante Börsen-Player ihren Ursprung in Bayern hätten. So komme mit Scalable Capital einer der größten deutschen Neobroker aus München.

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