LEITARTIKEL

Eine Regel fehlt noch

Wie konnten US-Hypothekenverbriefungen das westliche Finanzsystem destabilisieren und letztlich zum Zusammenbruch von Lehman Brothers führen? Die Gründe waren eigentlich simpel: Regulierung und Aufsicht hatten es zugelassen, dass Banken weit weniger...

Eine Regel fehlt noch

Wie konnten US-Hypothekenverbriefungen das westliche Finanzsystem destabilisieren und letztlich zum Zusammenbruch von Lehman Brothers führen? Die Gründe waren eigentlich simpel: Regulierung und Aufsicht hatten es zugelassen, dass Banken weit weniger Eigenkapital hielten als nötig, und Investoren hatten den Persilscheinen der Ratingagenturen für Subprime-Papiere Glauben geschenkt.Seit dem Lehman-Kollaps, der sich morgen zum zehnten Mal jährt, haben Regulierer und Aufseher kräftig nachgebessert. 2008 zählte der Datendienstleister Thomson Reuters knapp 9 000 Hinweise auf aufsichtsrechtliche Neuerungen. 2017 waren es 56 000. Allein der Frage, ob die von den größeren Banken selbst berechneten Risikoaktiva den Anforderungen entsprechen und inwieweit sie vergleichbar sind, widmet Europas Bankenaufsicht eine mehrjährige Untersuchung mit insgesamt rund 500 Leuten. Eigentlich alles ist mittlerweile bis ins Kleinste geregelt. Nur eine Regel fehlt: dass Banken Forderungen an Staaten mit Eigenkapital zu unterlegen haben.Erneut dulden es Regulierung und Aufsicht, dass Banken weniger Eigenkapital halten, als spätestens nach dem Zahlungsausfall Griechenlands angezeigt wäre. In den zehn Jahren seit dem Zusammenbruch von Lehman Brothers haben Regulierung und Aufsicht nichts getan, um den Nexus zwischen Staaten und Banken zu lösen. Im Gegenteil: Neue Anforderungen an die Liquiditätsausstattung zwingen Institute geradezu, Forderungen an den Staat aufs Buch zu nehmen. Unterdessen hat die Europäische Zentralbank mit dreijährigen Refinanzierungsgeschäften, mit denen sie die Krise eigentlich bekämpfen wollte, gerade klammen Banken günstig Liquidität geliefert, welche die Institute, anstatt damit Firmen zu finanzieren, in Staatspapiere steckten. Die mit der Nullgewichtung zementierten Anreize sind verheerend: Je weniger Eigenkapital eine Bank hat, umso größer die Versuchung, mit Staatsbonds Verzinsung ohne jeglichen Eigenkapitaleinsatz hereinzuholen.Nun ist es nicht so, dass Regulierer und Aufseher dieses Problem nicht erkennen würden. Sie tun nur so, als seien sie dafür blind. Den Staaten dienen die Institute als verlässlicher Absatzkanal für ihre Schuldverschreibungen. Der ist umso mehr von Bedeutung, da sich die öffentliche Verschuldung im Laufe der Finanzkrise weiter in die Höhe geschraubt hat. Nicht einmal Großkreditgrenzen bekommt die Regulierung hin. Ergebnis: Wie der Europäische Systemrisikorat berichtet, hat 2017 in den EU-Ländern der jeweilige Bankensektor im Mittel ein Fünftel der Staatsschuldtitel gehalten. Dass in mancher Bank das Engagement auch in Staatsanleihen jenseits des Heimatmarktes ein Vielfaches des Eigenkapitals erreicht, hat noch einen anderen Grund: Seit Beginn der Krise haben Regulierung und Aufsicht zwar die Anforderungen an Qualität und Quantität des risikogewichteten Eigenkapitals, dessen Berechnung sie selbst nicht so recht über den Weg trauen, stramm heraufgesetzt. Noch immer aber ist es Banken möglich, mit einem Eigenkapital von nicht mehr als 3 % ihrer Bilanzsumme zu arbeiten. Mit solch einer Eigenmittelausstattung würden die Institute, wären sie Mittelständler, sich selbst keinen Kredit gewähren. Vom Baseler Ausschuss für Bankenaufsicht ist in Sachen Nullgewichtung nichts zu erwarten. Bei Abschluss des Regelwerks Basel III im Dezember schob die Runde das Problem auf die ganz lange Bank und konnte sich nur auf ein Diskussionspapier einigen, das manch einer nicht einmal veröffentlichen wollte. Nicht auszudenken, was passieren würde, sollte sich das Gremium darauf einigen müssen, welches Risikogewicht welchem Staat zuzuordnen wäre, und Abstufungen zu begründen.Die regulatorische Privilegierung von Staatsanleihen in Bankbilanzen ist eine Kollusion von Staaten und Banken zulasten der Finanzstabilität und damit letztlich der Steuerzahler. Denn die Debatte um die Nullgewichtung wirkt nur so lange akademisch, wie kein Staat ausfällt. Die billionenschweren Rettungspakete, welche die öffentliche Hand in der Krise schnüren musste, haben die Bürger seit dem Lehman-Kollaps nicht unmittelbar infolge höherer Steuersätze zu spüren bekommen, wohl aber mittelbar in Form öffentlicher Verschuldung, einer Staatsschuldenkrise, milliardenschwerer Zinsausfälle infolge ultralaxer Geldpolitik, der Angst vor Altersarmut sowie in die Höhe schießender Assetpreise, die etwa Wohneigentum vielfach unerschwinglich werden lassen. Das damit verbundene Gefühl der Ohnmacht ist ein Nährboden für die politische Destabilisierung, die derzeit um sich greift. —–Von Bernd NeubacherDass Banken Staatsanleihen nicht mit Eigenkapital unterlegen müssen, ist eine Kollusion des Finanzsektors und der Politik zulasten der Finanzstabilität.—–