IM INTERVIEW: ROMAN GLASER

Erfolgreiche Partnerschaft durch Nachbarschaft

Zusammenhang zwischen dem Erfolg von mittelständischen Unternehmen und der Existenz von Volks- und Raiffeisenbanken in der Nähe zu erkennen

Erfolgreiche Partnerschaft durch Nachbarschaft

– Herr Glaser, 2018 wird bundesweit das Raiffeisenjahr gefeiert, um an den Genossenschaftspionier Friedrich Wilhelm Raiffeisen zu erinnern. Worin liegt der Grundgedanke einer Genossenschaft?Den Grundgedanken einer Genossenschaft hat Friedrich Wilhelm Raiffeisen selbst perfekt auf den Punkt gebracht: “Was den Einzelnen nicht möglich ist, das vermögen viele.” Durch Kooperation beziehungsweise den Zusammenschluss in Form von Genossenschaften können Menschen und Unternehmen gemeinsam Ziele erreichen, die sie alleine niemals schaffen würden. Dies ist zum Beispiel möglich durch Genossenschaften im Handel und im Handwerk, zwischen Dienstleistern oder auch im Energiesektor, in der Landwirtschaft oder bei genossenschaftlichen Banken, die ja der Gemeinschaft ihrer Mitglieder gehören.- Hat dieser Grundgedanke von Raiffeisen in der heutigen Zeit noch Gültigkeit?Ganz eindeutig: ja. Der Genossenschaftsgedanke ist zwar schon über 160 Jahre alt, erweist sich aber als aktueller und gefragter denn je. So beobachten wir seit Jahren gerade in Baden-Württemberg eine regelrechte Renaissance von Genossenschaften.- Wie drückt sich diese aus?In den vergangenen zehn Jahren sind allein in Baden-Württemberg 280 neue Genossenschaften gegründet worden. Zudem hat sich die Zahl der Genossenschaftsmitglieder im Südwesten seit 2008 um rund 500 000 auf nun 3,92 Millionen erhöht. Damit ist weit mehr als jeder dritte Einwohner in Baden-Württemberg Mitglied in mindestens einer Genossenschaft. In keinem anderen Bundesland ist die Mitgliederdichte so hoch wie hier. Deshalb können wir Baden-Württemberg auch ohne Übertreibung als das “Land der Genossenschaften” bezeichnen.- Woher kommt dieser Mitgliederzuwachs?Dieser erfreuliche Zuwachs liegt zum einen an den Neugründungen, vor allem aber auch daran, dass nach Ausbruch der Finanzmarkt- und Staatsschuldenkrise 2008 immer mehr Menschen ganz bewusst und aus voller Überzeugung Mitglied einer Volksbank oder Raiffeisenbank geworden sind und immer noch werden. Denn die Volksbanken und Raiffeisenbanken stellen mit großem Abstand den größten Anteil aller Genossenschaftsmitglieder.- Die Rechts- und Unternehmensform einer Genossenschaft galt lange Zeit als angestaubt und wenig attraktiv. Warum hat sich das in den letzten Jahren so grundlegend geändert?Es zeigt sich immer mehr, dass sich Genossenschaften perfekt zur Bewältigung vieler aktueller Zukunftsherausforderungen eignen. Genossenschaften können ein Modell für Kooperationen im Mittelstand sein, auch für ganz neue und innovative Geschäftsideen, sie können den Strukturwandel im ländlichen Raum begleiten oder auch die Lösung für Herausforderungen sein, die sich aus der demografischen Entwicklung ergeben. Ich denke hier an Genossenschaften, die helfen, dass es eine intakte Infrastruktur im ländlichen Raum auch weiterhin gibt. Ich denke an Ärztegenossenschaften, die die medizinische Versorgung auch in kleineren Gemeinden sicherstellen. Und ich denke auch an alternative genossenschaftliche Wohnformen, bei denen unterschiedliche Generationen zusammenleben und sich unterstützen.- Auch die UNESCO hat die Genossenschaftsform ausgezeichnet.Richtig. Die UNESCO hat Ende 2016 das Genossenschaftsprinzip und seine Umsetzung in der Praxis in die renommierte Liste des Immateriellen Kulturerbes der Menschheit aufgenommen. Sie würdigt damit, dass Genossenschaften in idealer Weise wirtschaftlichen Erfolg mit sozialer Verantwortung verbinden. Dies ist eine riesengroße Ehre für uns und eine wunderbare Anerkennung für alle Genossenschaftsmitglieder weltweit.- Baden-Württemberg ist bekannt für seine Wirtschaftsstruktur, die von mittelständischen Unternehmen getragen wird. Passt eine Genossenschaft in dieses Umfeld?Ja, und zwar ganz besonders gut. Genossenschaften sind selbst mittelständische und meist regional ausgerichtete Unternehmen und passen von ihrer Größe und ihren Werten her geradezu ideal zur Wirtschaftsstruktur Baden-Württembergs. Ein gutes Beispiel sind nicht zuletzt die Volksbanken und Raiffeisenbanken, die daher sehr genau verstehen können, wie ihre mittelständischen Kunden arbeiten und was sie benötigen. Daher ist es kein Zufall, dass es in denjenigen Regionen, in denen zahlreiche mittelständische Unternehmen angesiedelt sind, stets auch Volksbanken oder Raiffeisenbanken gibt. Es gibt einen klaren Zusammenhang zwischen dem Erfolg von kleinen und mittelständischen Unternehmen und der Existenz von Volksbanken und Raiffeisenbanken in der Nähe. Gewissermaßen kann man sagen: Erfolgreiche Partnerschaft durch Nachbarschaft.- Sie haben es angesprochen: Volksbanken und Raiffeisenbanken prägen das Bild von Genossenschaften hierzulande. Aber das Spektrum hat sich deutlich erweitert. In welchen Bereichen hat sich das genossenschaftliche Modell zuletzt etablieren können, und wo sehen Sie noch Potenzial?Die Vielfalt an genossenschaftlichen Unternehmen ist sehr hoch: Unsere aktuell 800 Unternehmen in der Rechtsform “eG” verteilen sich auf 50 verschiedene Branchen. Die Bandbreite unserer Genossenschaften reicht von Intersport und Euronics über die Volksbanken und Raiffeisenbanken, landwirtschaftliche Genossenschaften bis zum Gasthof, Dorfladen oder zur Schwimmbad-Genossenschaft. In den vergangenen Jahren entstanden neue Genossenschaften in den Bereichen Handel, Gastronomie, Handwerk, Marketing, Beratung, Energie, Gesundheit, Soziales sowie Forschung und Entwicklung – etwa als Zusammenschluss von Unternehmen. In diesen Feldern besteht weiterhin Potenzial. Einen Schwerpunkt in unserer Gründungsberatung bilden derzeit auch Genossenschaften im kommunalen Umfeld. Sie ermöglichen eine faire Teilung von Finanzierungskosten und erhöhen zugleich die Bindung und Identifikation der Menschen mit lokalen Projekten. Neben der ärztlichen Versorgung stehen hier Themen wie Mobilität, Infrastruktur, Betreuung und Bildung auf der Agenda. Daneben sehen wir Genossenschaften in vielen Fällen auch als ein sehr gutes Modell, um die Nachfolge in mittelständischen Betrieben zu sichern – insbesondere im Handwerk, aber auch in anderen Branchen.- Können Sie das etwas näher erläutern?Insbesondere bei mittelständischen, inhabergeführten Unternehmen und Handwerksbetrieben stellt sich immer öfter die Frage nach einer qualifizierten Nachfolge – verbunden mit dem Wunsch, dass das Unternehmen, dass der Betrieb im Sinne der bisherigen Leitung weitergeführt wird. Über die Rechts- und Unternehmensform der “eG” besteht die Möglichkeit, dass Mitarbeiter gemeinsam das Unternehmen übernehmen und in die Zukunft führen. Auf diese Weise können sie in die Verantwortung gelangen, ohne dass sie allein das volle finanzielle Risiko tragen müssen.- Wie sehen Sie grundsätzlich die Zukunft von Genossenschaften in einer immer globaler werdenden Welt?Für Genossenschaften sehe ich sehr gute Zukunftsaussichten – in Baden-Württemberg und auf der ganzen Welt. Neben den vielen großen, global agierenden Unternehmen wird es auch immer noch ausreichend Raum für Genossenschaften und andere mittelständische Unternehmen geben. Ich zitiere hier sinngemäß gerne den Technologiebeauftragten des Landes Baden-Württemberg, Prof. Dr. Wilhelm Bauer, wonach die Zukunft dem kooperativen Wirtschaften gehört. Die Herausforderungen, zu deren Lösung sich Genossenschaften hervorragend eignen, bestehen praktisch in allen Ländern. Und den Wunsch, wirtschaftlichen Erfolg mit sozialer Verantwortung zu verbinden, dürften die meisten Menschen auf allen Kontinenten teilen.—-Das Interview führte Claudia Weippert-Stemmer.—-Roman Glaser, Präsident des Baden-Württembergischen Genossenschaftsverbandes