ESG ist nicht mehr ein "Nice-to-have"

Heute Kerngegenstand der Unternehmens- und Portfoliostrategie - Aus dem Wettbewerbsumfeld und unserer Gesellschaft nicht mehr "wegzureden"

ESG ist nicht mehr ein "Nice-to-have"

Covid-19 hat Veränderungen bewirkt, wie wir sie noch nie gesehen haben, und ihre langfristigen und kurzfristigen Auswirkungen sind in allen Regionen, Branchen und Volkswirtschaften zu spüren. Abgesehen von der Pandemie durchlebt unsere Gesellschaft wesentliche Veränderungen im Umgang mit unseren “traditionellen” Wirtschafts- und Gesellschaftsregeln in den Bereichen Umwelt (Fridays for Future) oder Soziales (Offenlegung, Transparenz, Gleichberechtigung). Auch politisch stehen wir in der Europäischen Union (EU) zweifellos an einem Wendepunkt in diesen Belangen.Das Marktforschungszentrum von PwC hat in seiner neuen Studie eine Prognose für ESG-Investitionen (ESG steht für Environment, Social, Governance) in Europa veröffentlicht. Die Ergebnisse sind noch erstaunlicher als von vielen erwartet.Wir prognostizieren, dass die europäischen ESG-Vermögenswerte in Publikums- und alternativen Fonds bis 2025 zwischen 5,5 und 7,6 Bill. Euro liegen werden. Dies entspricht zwischen 41 % und 57 % der gesamten Investmentfondsvermögen in Europa bis 2025 und bildet eine der wesentlichen Erkenntnisse des jüngsten PwC-Berichts mit dem Titel “Die Wachstumschance des Jahrhunderts: Sind Sie bereit für den ESG-Wandel?”, der in englischer Sprache veröffentlicht wurde. Diese Zahlen stehen im starken Kontrast zu jenen aus dem Jahr 2019, als das ESG-Vermögen von 1,6 Bill. Euro nur 15,1 % des gesamten europäischen Fondsvermögens ausmachte.Obwohl Nachhaltigkeit und ESG einen weltweiten Trend darstellen, sind die aktuellen und anstehenden gesetzlichen Veränderungen in der EU ein Haupttreiber des exponentiellen ESG-Wachstums in Europa. Die UN-Agenda 2030 für nachhaltige Entwicklung und das vor fünf Jahren eingeführte Pariser Klimaabkommen (COP15) haben den Ton für die Umstellung auf ökologische und soziale Nachhaltigkeit angegeben. Die Annahme dieser Grundsätze durch die EU führte zu einer Reihe von Rechtsvorschriften, die die Integration der ESG-Grundsätze in die Finanzindustrie und den Binnenmarkt erzwingen.Eines der wichtigsten Gesetze wurde 2018 mit dem “EU-Aktionsplan zur Finanzierung von nachhaltigem Wachstum” verabschiedet, mit dem Europa die Kapitalflüsse im Binnenmarkt auf nachhaltige Wirtschaftsaktivitäten umleiten möchte. Diese Vorschriften, deren Umsetzung bis 2022 geplant ist und die alle wesentlichen Finanzmarktteilnehmer (Fondsgesellschaften, Banken, Finanzintermediäre, Versicherungen, Pensionskassen) betreffen, sind somit umfangreicher und ambitionierter als die einschneidenden Gesetzesänderungen der Vergangenheit – OGAW (Organismen für gemeinsame Anlagen in Wertpapieren), AIFMD (Alternative Investment Fund Manager Directive) und Mifid (Markets in Financial Instruments Directive)/IDD (Insurance Distribution Directive).Zum ersten Mal wird die Finanzbranche gleichzeitig und flächendeckend dazu angehalten, bei der Auswahl und Bewertung von Finanzanlagen Nichtfinanzindikatoren (ESG) mit Finanzindikatoren auf eine Ebene zu stellen. Dies ist sicherlich auch mit Risiken verbunden (zum Beispiel fehlende ESG-Daten, Ausschluss von Investitionsmöglichkeiten innerhalb und außerhalb der EU, strukturelle Kosten der Umstellung der Wirtschaft), könnte allerdings im Ergebnis die EU als globales Zentrum für ESG-Investitionen etablieren.Wir haben vier wichtige Treiber für die Fonds- und Vermögensverwaltungsindustrie identifiziert:(i) Die Verpflichtung für Treuhandinvestoren, ESG in ihrer Anlagepolitik zu berücksichtigen und für alle Aspekte der Anlagekette ein Wohlverhalten einzufordern. Dies setzt eine Umschichtung enormer Vermögen aus Pensionskassen und dem Deckungsstock von Versicherungen in Gang. Schutz vor Wertminderung(ii) Der zweite Wachstumstreiber ist die ESG-Performance beziehungsweise das ESG-Risiko. Historisch gesehen war die vorgefasste Vorstellung, dass ESG die finanzielle Rendite negativ beeinträchtigen würde, eines der Haupthindernisse für die Investition in ESG-Anlagen. Es stellt sich jedoch heraus, dass ESG tatsächlich bereits heute eine positive Wirkung hat. Eine von Schroders durchgeführte Analyse ergab, dass Unternehmen, die sich zur Verbesserung ihres ESG-Profils verpflichten, risikobereinigte Aktienrenditen erzielten, die 20 % höher waren als der MSCI Europe Index und ungefähr 70 % höher als jene von Unternehmen mit sich verschlechternden ESG-Werten. Die eigene Analyse von PwC zeigt, dass ESG-Fonds ihre Peergroup seit 2010 übertroffen haben, mit einer kumulierten Outperformance von 9 % bis 2019. Dieser Trend wird sich in den kommenden Jahren verstärken, da durch die gesetzliche Begünstigung von nachhaltigen Wirtschaftsaktivitäten das Risiko (und somit die negative Wert- und Renditeentwicklung) von nicht nachhaltigen Wirtschaftszweigen und Unternehmen in der EU strukturell steigt – die Investition in ESG ist somit keine Wette auf Rendite, sondern eine notwendige Maßnahme zum Schutz gegen das Wertminderungsrisiko.(iii) Sich verändernde Anlegerwünsche stellen den dritten Wachstumstreiber dar, und institutionelle Anleger sind dabei wegweisend. Die überwiegende Mehrheit der institutionellen Anleger erwartet eine Konvergenz zwischen ESG- und Nicht-ESG-Produkten und -Anlagen. Tatsächlich erwarten 99 % der befragten institutionellen Anleger, dass alle Fondsprodukte nachhaltig werden, wobei die Mehrheit davon ausgeht, dass dies bis 2022 geschehen wird, und 77 % von ihnen planen, den Kauf von Nicht-ESG-Produkten im selben Jahr einzustellen. Diese Marktentwicklung übertrifft somit die Zeitplanung der gesetzlichen Veränderungen. Ein weiterer Beweis für diese Verschiebung ist die Tatsache, dass die Nettozuflüsse bei ESG-Fonds seit 2014 proportional weitaus höher waren als bei Nicht-ESG-Fonds.(iv) Der letzte Treiber ist der zunehmende weltweite Fokus auf Nachhaltigkeitsthemen. Weltweit stufen wichtige Entscheidungsträger Umwelt- und Governance-Risiken als existenzielle Bedrohungen für die Menschheit ein. Insofern sind ESG-Investitionen zu einem grundlegenden Bestandteil einer weitaus größeren globalen Verschiebung hin zu ESG-Werten geworden.Dies entspricht einer außergewöhnlichen Wettbewerbsveränderung, die im allgemein anerkannten Modell von Michael Porter vier der fünf möglichen “Forces” in Bewegung setzt: Kundendruck, Substitution, neue Wettbewerber und externe Einflüsse auf den inhärenten Wettbewerb (Gesetzgeber).Um diese Wettbewerbsumwälzung zu überleben und die ESG-Chance zu nutzen, müssen europäische Fonds- und Vermögensverwalter ihr Wertversprechen und ihre Wettbewerbsfähigkeit überdenken. Dies erfordert nicht nur eine Veränderung der Anlagestrategien, sondern auch zu überdenken, wie ESG-Grundsätze sowohl strategisch als auch operativ in die eigenen Organisationen eingebracht werden können.Aufgrund der Geschwindigkeit der ESG-Veränderungen müssen Vermögensverwalter sorgfältig überlegen, welche Rolle sie dabei spielen möchten. Wir empfehlen eine klare strategische Entscheidung, wie tief und schnell ESG in die Organisationen eingebracht wird. Wir haben drei strategische Optionen identifiziert, die Vermögensverwalter verfolgen können: (i) Sie können sich zu einem “nachhaltigen Vermögensverwalter” umstrukturieren, eine strategische Überarbeitung durchlaufen und ESG auf allen Ebenen ihrer Organisationsstruktur integrieren. (ii) Alternativ können sie eine selektive Strategie verfolgen und sowohl ESG- als auch traditionelle Produkte beibehalten. (iii) Schließlich können sie einen “Business as usual”-Ansatz verfolgen, bei dem sie die erforderlichen neuen Vorschriften einhalten, sich aber nicht aktiv zu diesem Thema positionieren.Sofern der Fonds- und Vermögensverwalter eine aktive Position in Bezug auf ESG einnimmt, sind das Wertversprechen und die Wertschöpfung in den Dimensionen Produkte/Leistungen, Kernprozesse und Expertise zu berücksichtigen. Zunächst sind Produkte und Leistungen zu positionieren: Hier ist die neue Kategorisierung unter der Offenlegungsverordnung zur Nachhaltigkeit (SFDR) einschlägig. Jeder Vermögens- und Fondsverwalter muss entscheiden, in welchem Umfang und in welcher Kategorie (sogenannte Art. 9, Art. 8 oder nicht nachhaltig) die ESG-Ziele oder Charakteristiken der Produkte und Leistungen dem Kunden offengelegt werden. Die offengelegten ESG-Inhalte sind dann jedoch verpflichtend einzuhalten – ein wesentlicher Unterschied zu den bislang im Markt verbreiteten freiwilligen Standards.Der zweite Wettbewerbsfaktor sind die Kernprozesse und die ESG-Datenherausforderung. Die Kompetenz bei der Identifikation und strukturellen Verarbeitung der ESG-Daten stellt vielleicht DIE Kernkompetenz der kommenden Jahre dar. Der im Markt verfügbare Datenhaushalt zu ESG wird erst in den nächsten Jahren eine Reife erlangen, die mit jener der Finanzdaten vergleichbar ist. Die Genauigkeit und Vermeidung von Fehlausrichtungen bleiben das Kernmerkmal eines qualitativ hochwertigen Investment- und Risikoprozesses. Vermögensverwalter können dies erreichen, indem sie enger mit Unternehmen, in die sie investiert sind, zusammenarbeiten, um die Richtigkeit der Einhaltung der Vorschriften betreffend ESG und die Berichterstattung sicherzustellen, sowie durch die Ausbildung einer Datenexpertise zur intelligenten, internen Zusammenführung von direkten und indirekten ESG-Datenquellen. Dies ist umso wichtiger, als das einmalige Übersehen von ESG-Risiken schwerwiegende Auswirkungen auf die Reputation und die Performance von Vermögensverwaltern haben kann.Da die regulatorischen Anforderungen in Bezug auf die Berichterstattung und Offenlegung zunehmen und die Anleger den ESG-Kennzahlen der Vermögensverwalter, in die sie investieren, immer mehr Aufmerksamkeit schenken, ist es unerlässlich, dass Berichterstattungsprozesse und die interne Expertise verstärkt werden. Diejenigen, die über die Mindestanforderungen für die Berichterstattung hinausgehen, könnten die größten Gewinner sein. ESG-Welle nähert sich schnellDies erfordert eine aktive Weiterbildung und Einstellungspolitik zur Stärkung der ESG-Expertise bei den Portfoliomanagern und Mitarbeitern. ESG ist nicht mehr ein “Nice-to-have”, sondern Kerngegenstand der Unternehmens- und Portfoliostrategie.Diese “ESG-Welle” nähert sich sehr schnell. Das öffentliche Bewusstsein für ESG-bezogene Risiken, eine verstärkte behördliche Kontrolle sowie große demografische und gesellschaftliche Veränderungen setzen ESG-Investitionen ganz oben auf die Agenda der Vermögensverwaltung. Nachhaltigkeit ist möglicherweise nicht die Lösung aller unserer Probleme und keine Garantie für eine Outperformance, jedoch sind die Nachhaltigkeit und ESG aus dem Wettbewerbsumfeld und aus unserer Gesellschaft nicht mehr “wegzureden”.Es wird sich zeigen, wie die getroffenen gesetzlichen Maßnahmen von Wirtschaft und Gesellschaft umgesetzt werden, doch eines scheint uns sicher: Die Themen Umwelt, soziale Belange und Governance werden dieses Jahrhundert maßgeblich mitbestimmen. Diese Verschiebung stellt eine einmalige Chance dar – nicht nur für die Finanzindustrie, sondern auch für die zukünftige Entwicklung des gesamten europäischen Kontinents. Da das globale Kapital zunehmend für nachhaltige Projekte verwendet wird, ist Europa gut positioniert, um als globaler ESG-Hub neue Arbeitsplätze und Chancen entstehen zu lassen und damit einen nachhaltigeren Wohlstand zu schaffen. Olivier Carré, Partner, Leiter des Bereichs Finanzdienstleistungen bei PwC Luxemburg und Jörg Ackermann, Partner, Leiter Banking und Sustainable Finance Consulting bei PwC Luxemburg