Explosion der Wasserstoffaktien
H2 erfährt derzeit auch an der Börse viel Zuspruch als grüne Zukunftstechnologie. Allerdings unterliegen die Aktien des Sektors teils heftigen Kursschwankungen – und für Anleger bleibt die Partizipation am Boom des gesamten Sektors schwierig.Von Alex WehnertEin Zukunftstrend wirft an der Börse hohe Wellen: Die Kurse vieler Unternehmen, die Anwendungen für Wasserstofftechnologien entwickeln, sind in den vergangenen Monaten förmlich explodiert. Auf Jahressicht haben die Aktien eines großen Teils der Branchenvertreter Anstiege von über 150% hingelegt, in einigen Fällen belaufen sich die Kursgewinne gar auf 300 bis 500%. Getrieben wird die Performance durch die international verabschiedeten Klimaziele, vor allem jene der Europäischen Union. “Wasserstoff könnte entscheidend dazu beitragen, die Netto-Kohlenstoffemissionen bis 2050 auf null zu drücken”, sagt Benjamin Kelly, Analyst bei der Fondsgesellschaft Columbia Threadneedle. Durch H2-Technologien ließen sich Bereiche der Wirtschaft adressieren, in denen sich die Dekarbonisierung bislang als schwierig umsetzbar erwiesen habe – darunter der Langstreckentransport sowie die Stahl- und Chemieindustrie. Der aktuelle Wasserstoff-Hype ist allerdings nicht der erste, schon zuvor gab es Phasen, in denen das Interesse an H2-Technologien und damit auch der Forschungsaufwand stieg. “Nichts davon hat allerdings zu nachhaltig höheren Investitionen und einer breiteren Integration in Energiesysteme geführt”, sagt Kelly. Nach mehreren Fehlstarts könne es dieses Mal aber anders kommen – das 750 Mrd. Euro schwere Konjunkturprogramm der EU zur Erholung nach der Coronakrise und der European Green Deal hätten zu neuem politischem und wirtschaftlichem Momentum geführt. Wichtiges Element des Green Deals ist die lang erwartete, im Juli vorgelegte europäische Wasserstoffstrategie. Im Rahmen dieser soll der Anteil von Wasserstoff an Europas Energiemix von derzeit 2 auf 12 bis 14% im Jahr 2050 steigen. Nach groben Berechnungen der EU-Kommission könnten in diesem Zeitraum kumuliert Investitionen in erneuerbaren Wasserstoff von 180 bis 470 Mrd. Euro fällig werden und für CO2-armen, aber auf fossiler Basis erzeugten Wasserstoff noch einmal zusätzliche 3 bis 18 Mrd. Euro.Laut Saurabh Sharma, Investmentexperte bei Fidelity International, ist grüner Wasserstoff in der Herstellung mehr als viermal teurer als Wasserstoff aus Erdgas. Eine Kostenparität sei gemäß verschiedener Analysen frühestens 2030 zu erwarten. Die EU-Subventionen könnten allerdings dabei helfen, die Infrastruktur für grünen Wasserstoff anzuschieben. “Ich denke, dass grüner Wasserstoff eine gute Lösung für die Dekarbonisierung von Schwerlastkraftwagen sowie für die Schiff- und Luftfahrt ist, da Wasserstoff eine höhere Energiedichte als Batterien hat und daher eine längere Laufleistung ermöglicht”, sagt Sharma. Tatsächlich hat der europäische Flugzeugbauer Airbus Wasserstoff zuletzt zur aussichtsreichsten kohlenstoffarmen Lösung für die Industrie erklärt und sich eine Deadline gesetzt: Bis 2035 will der Konzern das weltweit erste Flugzeug mit einer Emissionsrate von null entwickeln. GM steigt bei Nikola ein”Die größte Herausforderung für Wasserstoff ist seine geringe “Energieeffizienz”, sagt Columbia-Analyst Kelly dagegen bezüglich der Anwendung für Pkw. Während der Produktion entstehe beispielsweise eine große Verschwendung, nach der im Fahrzeugbereich häufig angewandten Methode “Well-to-Wheel” (“vom Bohrloch bis zum Rad”) liege die Effizienz bei gerade einmal 25 bis 40%, bei Flüssigwasserstoff seien es nur 15 bis 30%. Bei Fahrzeugen mit Elektro-Antrieb belaufe sich der “Well-to-Wheel”-Wert auf 70 bis 90%. Allerdings stünden die Zeichen gut, dass der Produktions- und Effizienznachteil durch die politische Unterstützung überwunden und Wasserstoff die dominante grüne Technologie werden könne. Der US-Lastwagenhersteller Nikola, einer der prominentesten Vertreter der Wasserstoffbranche, will mit seinem Pick-up-Modell “Badger” jedenfalls in direkte Konkurrenz zu Elektro-Platzhirsch Tesla treten und hat auch schon einen mächtigen strategischen Partner gefunden. Denn General Motors (GM) erwirbt Nikola-Aktien im Wert von rund 2 Mrd. Dollar und kommt damit auf eine Beteiligung von 11%, wie die Unternehmen Anfang September verkündeten. Zugleich wird der “Badger” gemäß Plan bei GM gefertigt. Zunächst reagierte die Nikola-Aktie darauf mit kräftigen Kursgewinnen. Mittlerweile muss sich der Lastwagenhersteller allerdings mit schweren Vorwürfen herumschlagen und hat deshalb zuletzt seinen Chef verloren. Firmengründer und Geschäftsführer Trevor Milton bot inmitten eines Streits mit Leerverkäufern am 21. September seinen Rücktritt an. Als Nachfolger ernannte Nikola mit sofortiger Wirkung den ehemaligen GM-Vize Stephen Girsky. Zuvor hatte der Shortseller Hindenburg dem Lastwagenbauer vorgeworfen, Investoren bezüglich der Funktionstüchtigkeit seiner Technologien in die Irre geführt zu haben. Zum Beispiel habe der Produzent von wasserstoffbetriebenen Trucks bei einem Werbevideo für sein Modell “One” getrickst: Darin ist zu sehen, wie der Laster eine einsame Wüstenstraße entlangfährt. In Wirklichkeit habe Nikola das Fahrzeug aber einfach eine Anhöhe hinabrollen und es im Film so aussehen lassen, als sei die Straße flach gewesen. Zumindest diesen Vorwurf bestreitet der Konzern nicht – wenngleich er recht kleinlaut darauf verweist, er habe nie behauptet, der Truck sei im Video “aus eigenem Antrieb auf der Straße unterwegs” gewesen. Gegen weitere Anschuldigungen von Hindenburg wehrt sich Nikola aber entschieden. Hinter dem Analysedienst steht der Leerverkäufer Nate Anderson, der bei Nikola nach eigenen Angaben selbst short positioniert ist. Die US-Börsenaufsicht SEC prüft den Fall allerdings trotzdem – und die Aktie des Lastwagenbauers, seit dem Börsengang Anfang Juni ohnehin hochvolatil, hat die Affäre bereits schwer belastet. Nach dem Reverse Merger mit der Mantelgesellschaft VectolQ, durch den Nikola am 4. Juni an die Börse kam, war das Papier innerhalb weniger Tage um über 135% in die Höhe geschossen. Der Streit mit Hindenburg drückte den Kurs zuletzt allerdings zeitweise wieder unter das zum Börsendebüt erreichte Niveau. Zwar sorgte die US-Großbank J.P. Morgan zuletzt für etwas Beruhigung bei den Anlegern, als sie ihre Empfehlung zum Übergewichten der Nikola-Aktie bestätigte – es bestehe kein Momentum-Verlust bei den bereits akquirierten Partnern, potenziellen Kunden, Lieferanten und Mitarbeitern, heißt es von den Analysten. Doch nach dem zwischenzeitlichen Kurssturz ziehen bereits die ersten Nikola-Investoren vor Gericht und fordern Schadenersatz. Die New Yorker Anwaltskanzlei Jakubowitz Law hat bereits eine Sammelklage eingereicht, der sich Aktionäre anschließen können, die zwischen dem 3. März und 15. September 2020 Nikola-Aktien erworben haben. Die Mantelgesellschaft VectolQ habe vor dem Reverse Merger keine angemessene Due-Diligence-Prüfung vorgenommen, so einer der in der Klageschrift erhobenen Vorwürfe. Zudem habe Nikola seine potenziellen Wasserstoff-Produktionskapazitäten übertrieben dargestellt. Kapitalerhöhung bei NelGefährlich könnte die Entwicklung bei Nikola auch für andere Titel der Branche werden – darunter die Aktie des norwegischen Elektrolysespezialisten Nel. Schließlich sind die Unternehmen miteinander verbandelt, Nikola will mit Elektrolyseuren von Nel ein Tankstellennetz aufbauen und somit das Problem der fehlenden Infrastruktur angehen. Im Juni hatte der Lastwagenbauer seinem Partner einen Auftrag im Umfang von über 30 Mill. Dollar erteilt. Konkret geht es dabei um 85-Megawatt-Alkalielektrolyseure, mit denen Nikola fünf Wasserstofftankstellen mit einer Kapazität von 8 Tonnen pro Tag ausrüsten will. Tatsächlich hat auch die Nel-Aktie zwischen Anfang und Mitte September deutliche Kursverluste erlitten. Nun könnte eine weitere Verwässerung bevorstehen, denn die norwegische Börsenaufsicht hat Nel grünes Licht für eine Kapitalerhöhung gegeben. Über 10,8 Millionen neuer Aktien kann der Elektrolyse-Spezialist so platzieren. Die neuen Papiere sollen ab dem 2. Oktober an der Börse handelbar sein.Angesichts der Risiken in Verbindung mit Nikola und der Kapitalerhöhung gibt sich die Citigroup vorsichtig. Das US-Geldhaus hat die Nel-Aktie jüngst in die Coverage aufgenommen, setzt sie aber vorerst auf “Neutral”. Optimistischer zeigten sich zuletzt die Analysten der Privatbank Berenberg, die den Titel zum Kauf empfehlen. Zwar sei mit einigen Unebenheiten zu rechnen, langfristig sei Nel aber gut genug aufgestellt, um zu einem führenden Vertreter der Wasserstoffbranche zu werden. Neben der Nikola-Kooperation verfügten die Norweger über weitere wichtige Partnerschaften. Diese untermauerten das Vertrauen in die Technologie von Nel, die breite Aufstellung des Unternehmens über Sektoren wie den Transport, die Förderung sowie die Stahl- und Ammoniakindustrien sei ebenfalls positiv. Im März habe Nel eine Vereinbarung mit Kvaerner, einem Spezialisten für maritime Technik, unterzeichnet. Die Unternehmen arbeiteten bereits an der Entwicklung eines standardisierten 20-Megawatt-Produktionsmoduls. Ziel sei eine Standardlösung für Projekte mit deutlich höherer Skalierung. Dies werde die Wettbewerbsfähigkeit von Nel stärken. Laut Berenberg ist Nel zudem der einzige Elektrolyseurproduzent, der mehr als eine Technologie anbiete. Beim schwedischen Konkurrenten Powercell zeigen sich die Analysten weniger euphorisch. Im August nahmen sie das Papier mit einer Empfehlung zum “Halten” in die Coverage auf – ihrer Meinung nach ist das Wachstumspotenzial des Unternehmens bereits eingepreist. Zwar könnten die Schweden durch eine Kooperation mit Bosch zum dominanten Zulieferer von Brennstoffzellen für die Automobilbranche aufsteigen. Doch habe Powercell trotz einer langen Liste namhafter Partner in anderen Branchen kaum greifbare Deals auf den Weg gebracht. Auch bei den Börsianern scheint der Drang nach Powercell abzunehmen. Zwar hat das Papier zwischen Jahresbeginn und Mitte September um über 50% zugelegt. Von seinem Ende Juni erreichten Rekord ist es nach einem kräftigen Rücksetzer im Juli aber weit entfernt.Problematisch bleibt für Anleger angesichts der hohen Kursschwankungen einzelner Wasserstoffwerte, dass es bislang nur begrenzt Möglichkeiten gibt, am Boom der gesamten Branche zu partizipieren. Aktivfonds, die ausschließlich auf Wasserstofftitel setzen, gibt es derzeit ebenso wenig wie reine H2-ETFs. Eine Möglichkeit, die sich jetzt schon bietet, sind Zertifikate. So hat die US-Investmentbank Morgan Stanley ein derivatives Produkt auf den E-Mobilität Wasserstoff Index des deutschen Anbieters Solactive aufgelegt. Dieses ist sowohl mit einem Hebel von 1 als auch mit bis zu fünffacher Hebelwirkung verfügbar. Der Basiswert fasst die Entwicklung eines Großteils der bekanntesten Werte aus der Branche zusammen – darunter Plug Power, Ballard Power, Powercell, Nel, aber auch die deutsche SFC Energy. Am stärksten gewichteter Wert ist der britische Elektrolysespezialist ITM Power. Zwischen Jahresbeginn und Mitte September hat der Index um über 120% zugelegt, auf Sicht von einem Jahr sind es gar über 170%. Auch Wasserstoffzertifikate mit regionalem Fokus bietet Morgan Stanley an: Sowohl auf den E-Wasserstoff Europa Index als auch auf den E-Wasserstoff Nordamerika Index von Solactive gibt es Mini Futures und Faktorzertifikate. Das Faktorzertifikat auf den Nordamerika-Index, der neben Nikola neun weitere Werte umfasst, ist seit Ende Juli handelbar. Die enthaltenen Titel werden vierteljährlich auf ihre ursprüngliche Gewichtung zurückgesetzt.Indes hat die Unicredit im Februar ein Endlos-Zertifikat emittiert, das den an der Börse Stuttgart aufgelegten Global Hydrogen Net Return Index abbildet. Auch in diesem sind prominente Branchenvertreter enthalten, die Zusammensetzung wird halbjährlich geprüft und die Dividenden werden reinvestiert. Der Basiswert hat im vergangenen halben Jahr eine Performance von fast 90% hingelegt.Das mag für Anleger attraktiv erscheinen – allerdings bietet eine starke Performance in der Vergangenheit keine Garantie für die Zukunft. Je nach Ausgestaltung der verschiedenen Produkte sind auch Totalverluste möglich. Gerade die Hebelwirkung der Zertifikate bringt für unerfahrene Anleger Risiken mit sich. Zudem bergen Investitionen in Zertifikate weitere Nachteile: Die für diese Produkte anfallenden Kosten sind wesentlich höher, als es Anbieter von Passivfonds verlangen könnten. Wer eine unkompliziertere Anlage sucht, kann seinen Fokus auch erweitern und auf die bereits verfügbaren Fonds aus dem Feld der erneuerbaren Energien setzen. Hundertprozentig zufriedenstellend dürfte dies für von Wasserstoff als dominanter grüner Zukunftstechnologie überzeugte Investoren aber nicht sein. Fidelity-Analyst Sharma hält die Entwicklung des Marktes für Wasserstoff-ETFs insgesamt für schwer prognostizierbar – schließlich gebe es für das Feld der erneuerbaren Energien allgemein wenige solcher Fonds, obwohl die Chancen der vertretenen Technologien riesig seien. Da die wirtschaftlichen Erfolge der Wasserstoffbranche noch nicht absehbar seien, biete sich ein defensives Engagement an – etwa über große Gasnetzbetreiber oder Chemie-Schwergewichte.