Fintech-Standort Berlin wittert Morgenluft
Von Stefan Paravicini, BerlinWer sich am Donnerstag der vergangenen Woche zu vorgerückter Morgenstunde in der angesagten “Station Berlin” einfand, um den Start der “Fintech Junction”-Konferenz nicht zu verpassen, dem bot sich zunächst der Eindruck einer eher verschlafenen Start-up-Hauptstadt. Denn zum offiziellen Beginn der Auftaktveranstaltung um 9 Uhr hatten sich nur wenige Besucher bis zur “Central Stage” vorgearbeitet und auch auf der “Main Stage”, auf der “Hub Stage” und auf dem “Open Plaza” war man mehr oder weniger ungestört. Die meisten Aussteller, die sich im Rahmen der Konferenz präsentierten, blieben zunächst ebenfalls unbehelligt. Die Veranstalter aus Israel, die Berlin zum ersten Mal ihre Aufwartung machten, zuckten mit den Schultern und verschoben den Start zunächst um eine halbe, dann um eine volle Stunde. Sie seien davor gewarnt worden, dass in Berlin niemand vor 10 Uhr auf einer Konferenz auftauchen werde, hieß es am Rande der Veranstaltung. Klarna kommt an die SpreeDie Berliner Fintech-Szene wittert dennoch Morgenluft. Das Interesse von Investoren an den jungen Herausforderern für Banken und Versicherer aus der Hauptstadt ist zuletzt noch einmal gestiegen, wie etwa die jüngste Erhebung von Comdirect und Barkow Consulting zum Thema ergeben hat. Demnach sind bis Ende September fast 90 % der rund 1,3 Mrd. Euro Risikokapital, die deutsche Fintech-Firmen eingeworben haben, nach Berlin geflossen.Während die Fintech Junction noch auf Besucher wartete, lieferte der schwedische Zahlungsdienstleister Klarna in der vergangenen Woche einen weiteren Nachweis für die Attraktivität des Standorts. Denn spätestens im Sommer des nächsten Jahres will das wertvollste europäische Fintech, das bei der jüngsten Finanzierungsrunde im August eine Bewertung von 5,3 Mrd. Dollar erzielte, ein Technologiezentrum für mehr als 500 Mitarbeiter in Berlin eröffnen. Erst im Sommer hat auch die britische Smartphone-Bank Revolut angekündigt, ein Technologiezentrum an der Spree anzusiedeln, was von Beobachtern als Kampfansage an das wertvollste Berliner Fintech N26 verstanden wurde, das es zuletzt auf eine Bewertung von 3,5 Mrd. Dollar gebracht hat.Die Ankündigung von Klarna war binnen weniger Tage schon die zweite Erfolgsmeldung für den Fintech-Standort. Denn kurz zuvor hatte das Berliner Insurtech Wefox mitgeteilt, dass es seine 110 Mill. Euro schwere Finanzierungsrunde aus dem Frühjahr mit Hilfe der Investoren Mubadala, Samsung und Omers Ventures um 100 Mill. Euro erweitert hat. Die Bewertung soll bei rund 1,5 Mrd. Euro liegen, womit Wefox zum ersten “Einhorn” in der deutschen Insurtech-Szene aufsteigt.In Berlin sieht man sich bereits auf dem Sprung in die erste Fintech-Liga. Mit Klarna sei der nächste Fintech-Riese in der Hauptstadt vertreten, sagte Christoph Stresing vom Bundesverband Deutsche Start-ups. “Unserer Einschätzung nach ist Berlin damit mindestens gleichauf mit dem bisherigen Spitzenreiter London, der durch den Brexit-Wirrwarr immer mehr Risiko und Unsicherheit ausstrahlt.” Auch die Berliner Wirtschaftssenatorin Ramona Pop (Bündnis 90/Die Grünen) ist begeistert. Die Entscheidung von Klarna für Berlin sei erneut eine gute Nachricht und zeige die Attraktivität sowie das Vertrauen in den Wirtschaftsstandort. “Berlin ist Fintech-Hauptstadt”, lautet das Fazit sowohl beim Start-up-Verband als auch im Senat.Mit Blick auf Deutschland steht das außer Zweifel. Berlin zieht nicht nur den größten Teil des Risikokapitals für die neuen Konkurrenten der Finanzbranche an. In Berlin sind derzeit auch mehr Fintech-Unternehmen zu Hause als in München, Frankfurt und Hamburg zusammen. Das Finanzmarktzentrum am Main liegt trotz geballter Branchenkompetenz nach verschlafenem Start als Fintech-Standort nicht nur abgeschlagen hinter Berlin, sondern muss auch München den Vortritt lassen. Beide Städte haben der Bankenmetropole ein gewachsenes Ökosystem für Start-ups voraus. “Das ist etwas, das man nicht über Nacht aus dem Boden stampft”, sagt Peter Barkow, der Gründer von Barkow Consulting, die zusammen mit Comdirect seit Jahren den Fintech-Standort Deutschland vermisst. Er rechnet deshalb nicht damit, dass der Fintech-Standort Frankfurt den Abstand auf die Hauptstadt bald verringern kann.Die schlechte Nachricht für Berlin lautet, dass das ganz ähnlich für den eigenen Abstand auf London gilt. Hinter den USA, Asien und Großbritannien spiele Deutschland bei Fintechs in der vierten Liga, sagt Barkow. Zwar sei es toll, dass Finanzierungsrunden in dreistelliger Millionenhöhe, die international die Norm sind, zuletzt auch regelmäßig in Berlin zu beobachten waren. Die britische Hauptstadt habe anderen Standorten trotz Brexit aber eine Qualität voraus: “London ist New York und das Silicon Valley zusammen in einer Stadt”, sagt Barkow. Oder, um es auf deutsche Verhältnisse herunterzubrechen: Die Finanzexpertise aus Frankfurt und die Start-up-Mentalität aus Berlin, am besten noch mit dem Lebensgefühl aus München. Wer auf der stehenden Welle im Münchner Eisbach statt im Pazifik surfen will, muss allerdings besonders früh aufstehen.