LEITARTIKEL

Gefährdete Schweizer Börse

Der von Brüssel angedrohte Angriff auf die Schweizer Börse bringt die Schweiz mächtig auf Trab. Nichts zeigt dies deutlicher als der Griff zum Notrecht, mit dessen Hilfe die Schweizer Regierung, der Bundesrat, am Wochenende ihre Abwehrmaßnahme in...

Gefährdete Schweizer Börse

Der von Brüssel angedrohte Angriff auf die Schweizer Börse bringt die Schweiz mächtig auf Trab. Nichts zeigt dies deutlicher als der Griff zum Notrecht, mit dessen Hilfe die Schweizer Regierung, der Bundesrat, am Wochenende ihre Abwehrmaßnahme in Kraft gesetzt hat, um die Finanzmarktinfrastruktur des Landes zu schützen und ein Abwandern des Handels mit Schweizer Aktien ins Ausland zu verhindern. Der Griff zum Notrecht ist keineswegs frei von Risiken, wie der zuständige Finanzminister Ueli Maurer schon im Juni eingeräumt hatte. Der Magistrat dachte damals wohl mehr an die vielen kniffligen praktischen Probleme, die seine Verteidigungsstrategie schwächen könnten. Tatsächlich kann Notrecht in einem komplizierten demokratischen System drängende Probleme ohne demokratischen Zeitverlust scheinbar effizient lösen. Wenn der Griff zum Notrecht aber in einem demokratischen Land zur Gewohnheit wird, stellt sich die Frage der demokratischen Legitimation.Als der Bundesrat in der Finanzkrise vor zehn Jahren zum Notrecht griff, um die Großbank UBS zu retten, ging es darum, die Stabilität des Schweizer Finanzsystems zu sichern. Auch diesmal legitimiert die Regierung ihre Intervention mit der Systemrelevanz. Mit gutem Grund: Die Börse ist schließlich der Ort, an dem sich Unternehmen das Kapital für zukunftsträchtige Investitionen beschaffen. Ein gut funktionierender Kapitalmarkt kann für ein Land ein bedeutender Wettbewerbsvorteil sein. Insofern hat die EU-Kommission eine neuralgische Stelle gefunden, um die Schweiz im Ringen um das von Brüssel geforderte Rahmenabkommen gefügig zu machen. Das Rahmenabkommen soll den Marktzugang zwischen der Schweiz und der EU einheitlicher regeln. Die Drohung ist so simpel wie handfest: Ohne Gleichwertigkeitsanerkennung der Schweizer Börsenregulierung dürfen europäische Wertpapierhändler und Investoren an der Schweizer Börse keine Titel mehr handeln. Ohne Gegenmaßnahme könnte ein großer Teil des Handels von der Schweiz ins europäische Ausland abwandern. Im Extremfall würde ein Pfeiler der helvetischen Finanzmarktinfrastruktur wegbrechen.Doch in der Brüsseler Regulierungslogik sollte diese Drohung eigentlich gar nicht wirken. Die erste EU-Finanzmarktdirektive (Mifid), 2007 in Kraft getreten, hatte nichts weniger als die Auflösung nationaler Börsenmonopole zum Ziel. Auch die Schweiz unterwarf sich der Direktive. Deshalb hat ihr auch die europäische Börsenaufsichtsbehörde ESMA (technisch) die Gleichwertigkeit ihrer Börsenregulierung zugebilligt. Die EU-Kommission macht keinen Hehl daraus, dass eine Aberkennung dieser Äquivalenz ganz allein politische Gründe hätte. Aber nach strenger Mifid-Logik sollte die Schweizer Börse gar kein wirksames Druckmittel mehr sein, weil die Schaffung eines integrierten europäischen Kapitalmarktes auch zu einer Europäisierung der Finanzmarktinfrastruktur hätte führen sollen. Dass dies bis heute nicht geschehen ist, lässt sich nicht nur in der Schweiz erkennen. Die ehemaligen nationalen Monopolbörsen sind in der EU immer noch dominant. Das Wettbewerbsrecht würde vielleicht von “marktbeherrschend” sprechen. Zwar sind die Marktanteile dieser Börsen im Handel mit den Aktien ihrer nationalen Firmen in den vergangenen 10 oder 15 Jahren von über 90 % auf vielleicht 60 % gefallen. Und die Zulassung nicht regulierter Handelsplattformen, wie sie die Banken selbst etablierten, haben die nationalen Börsen auch gezwungen, ihre Preise kräftig zu senken.—–Von Daniel ZulaufSo gesehen offenbart die Drohung der EU-Kommission auch Defizite in ihrer eigenen Regulierungslogik. —–