Geldbad belebt Aktiensparen
Von Jan Schrader, FrankfurtDie Wirtschaftskrise prägt bereits die Begriffe in der Ökonomie: “Unfreiwillige Konsumzurückhaltung” nennt die Bundesbank das Phänomen der Pandemie. Halten Privatleute gewöhnlich ihr Geld in einer Krise zusammen, weil sie Arbeitslosigkeit befürchten oder ihr Einkommen wegbricht, fällt diesmal laut Untersuchungen von EZB und Bundesbank stärker ins Gewicht, dass der Staat das öffentliche Leben heruntergefahren hat und die Möglichkeiten für Konsum schwinden. Dabei ist reichlich Geld vorhanden, denn die Einnahmen der privaten Haushalte sind nur moderat gesunken – nicht zuletzt, weil die Bundesregierung mit üppigen Hilfen eingesprungen ist. Die Bürger horten daher notgedrungen immense Beträge. Mehr als 109 Mrd. Euro haben private Haushalte in Deutschland nach jüngsten Zahlen der Bundesbank allein im zweiten Quartal gespart. Unter normalen Umständen hätten sie ungefähr 68 Mrd. Euro zur Seite gelegt, wie sich aus den Vorjahren ableiten lässt. Damit ergibt sich ein Sparüberschuss von 41 Mrd. Euro. Auf Gesamtjahressicht erscheint ein zusätzlich angesparter Betrag in dreistelliger Milliardenhöhe realistisch, denn die Sparquote blieb im Jahresverlauf hoch, und seit wenigen Wochen steht schon wieder das öffentliche Leben weitgehend still.Bereits per Ende des dritten Quartals schätzen die Volkswirte des Bundesverbands der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken (BVR) den bis dahin erzielten Überschuss auf einen höheren zweistelligen Milliardenbetrag. Die Analysten der Allianz gehen von ungefähr 100 Mrd. Euro auf Jahressicht aus, die jüngsten Einschränkungen waren da nicht berücksichtigt. Der Versichererverband GDV erwartet sogar, dass bis Ende des ersten Quartals des neuen Jahres rund 155 Mrd. Euro zusätzlich gespart werden. Pro Kopf hätte damit jeder Einwohner in Deutschland, vom Säugling bis zum Greis, allein aufgrund der Coronakrise zusätzlich annähernd 1 900 Euro zur Seite gelegt. Das verschärft die Wirtschaftskrise, denn die Gesamtsumme entspricht mehreren Prozentpunkten der Wirtschaftsleistung und fehlt im Konsum. Das Phänomen zeigt sich auch in anderen Ländern Europas. Lediglich in Schweden, wo die Regierung im Frühjahr das öffentliche Leben nur unwesentlich einschränkte, stieg die Sparquote im zweiten Quartal nicht.Weil die Deutschen ihre Anlagegewohnheiten nur langsam ändern, fließt der Überschuss überwiegend auf das Bankkonto. Aber auch das Wertpapiersparen erlebt bereits eine Konjunktur: Allein im zweiten Quartal fiel das Volumen, das Privatleute laut Bundesbank neu in Aktien angelegt haben, mit knapp 16 Mrd. Euro um rund 10 Mrd. Euro höher aus, als es der langfristige Trend nahelegt. Schon im ersten Halbjahr war das neu angelegte Vermögen in der Kategorie der Einzelaktien hoch, obwohl die Kurse im März kollabiert waren.Die Lust auf das Wertpapiersparen setzte sich im Jahresverlauf fort, wie Direktbanken gegenüber der Börsen-Zeitung übereinstimmend berichten. “Viele Kunden haben die Kurserholung im Frühjahr als Einstiegsgelegenheit genutzt. Auch danach haben wir hohe Zuflüsse gesehen”, sagt Thomas Dwornitzak, Leiter des Bereichs Sparen & Anlegen der ING Deutschland. Mit 7 Mrd. Euro bis Ende September hat die Bank ähnlich wie die Rivalin Comdirect mit knapp 9 Mrd. Euro weitaus mehr Nettomittelzuflüsse auf Wertpapierdepots verzeichnet als im Jahr zuvor. Das Geld fließe vor allem in Aktien, berichtet Dwornitzak. Viele jüngere Anleger investierten dabei in Tech-Titel wie Apple und Amazon und griffen darüber hinaus zu ETFs. Klassische Sparprodukte wie Tages- und Festgeldkonten sind derweil kaum gefragt, wie er ausführt, obwohl sich die Beträge auf den Girokonten türmen. Neben der Krise bleibe das Niedrigzinsumfeld treibende Kraft. Sparplan lehrt UmdenkenOft haben Anleger allerdings kurzfristig reagiert: Sie haben nicht nur Fonds und ETFs im abgelaufenen Jahr stärker als sonst gekauft und verkauft, sondern handelten auch viel öfter mit verschiedenen gehebelten Derivaten. Aber auch die langfristige Geldanlage gewinnt Anhänger: Sparpläne boomen sowohl im ETF-Geschäft über Direktbanken als auch im klassischen Fondsvertrieb über Banken und Sparkassen. Der Datendienst Extra-ETF zählt in seiner Erhebung unter Direktbanken für das abgelaufene Jahr bereits netto 506 000 neue Sparpläne bis Ende September, das entspricht einem deutlich höheren Zuwachs als im Vorjahreszeitraum. Im klassischen Vertrieb hat die DekaBank über die Sparkassen netto 550 000 neue Sparpläne (+ 41 %) bis Ende September abgesetzt, und Union Investment verkaufte über die Kreditgenossenschaften 232 000 neue Verträge (+ 27 %) bis zur Jahresmitte. Die Direktbanken führen damit 1,8 Millionen ETF-Sparpläne, während Deka und Union auf 5,7 Millionen und 5,4 Millionen Verträge kommen. Aufs Jahr hochgerechnet legen Anleger über Direktbanken, DekaBank und Union Investment etwa 21 Mrd. Euro neu über Fondssparpläne an.Das ratierliche Sparen sei gerade in der Coronakrise ein wirksames Mittel, um Privatleute in die langfristige Anlage zu lotsen, sagt der Ökonom Hanno Beck, Professor an der Hochschule Pforzheim. Wie die meisten Menschen das Ersparte künftig anlegen, könne jedoch nur schwer vorhergesagt werden, weil die Wahl von Fonds und Aktien immer auch von den Erwartungen zum Verlauf der Pandemie einerseits und der Entwicklung an den Kapitalmärkten und der Inflation andererseits abhänge. Entscheidend sei aber auch, wie die Menschen das unfreiwillig Ersparte mental verbuchten: Denn was wie ein unerwartetes Geldgeschenk bemessen werde, fließe eher in den Konsum, während das gedankliche Etikett der langfristigen Anlage genau das verhindere. Ein Sparplan ist in seinen Augen nicht nur ein Instrument, um die trägen Gewohnheiten zugunsten der Wertpapieranlage zu drehen, sondern auch, um den Blick auf das Ersparte zu ändern.Doch anders als das Geschäft mit Aktien hat die Coronakrise den Absatz der Fondsbranche bisher allenfalls geringfügig belebt. Den Kursrutsch im März hat die Branche rasch weggesteckt, doch darüber hinaus weicht das Geschäft unwesentlich von den Vorjahren ab. Mit netto 21 Mrd. Euro, die laut deutschem Fondsverband BVI von Anfang Januar bis Ende September in Aktien-, Misch- und Immobilienfonds flossen – in Kategorien, die häufig von privaten Sparern gekauft werden, – liegt das Volumen über den Jahren 2019 und 2016, bleibt aber weit hinter 2018 und 2017 zurück. Laut Daten der Bundesbank glichen sich das schwache Geschäft im Startquartal und die hohen Nettozuflüsse im zweiten Jahresviertel aus, so dass private Haushalte unterm Strich nicht viel häufiger zu Fonds griffen als in den Vorjahren.Doch der Wertpapiertrend steht am Anfang, die hohen Geldvermögen bleiben als Treiber erhalten. Das viele Geld wird nach Einschätzung der Bundesbank nur zum Teil wieder in den Konsum fließen. Denn ungewollt viel gespart haben vor allem Menschen mit höherem Einkommen – eine Klientel, die zusätzliches Geld nur in kleinerem Umfang ausgibt. Die Ökonomen erwarten, dass die Sparquote erst 2022 leicht unter das langfristige Niveau von gut 10 % sinken wird, Privatleute ihren Konsum also nur in geringem Umfang nachholen. Für 2020 erwarten sie eine Quote von 16,8 %, die im neuen Jahr nur geringfügig auf 14,5 % fällt.Die Krise habe die Ungleichheit in Deutschland eher verstärkt, vermutet Arne Holzhausen, der als Leiter Insurance & Wealth Markets für die Allianz die Vermögensbildung privater Haushalte beobachtet. Umfragen zum künftigen Ausgabe- und Sparverhalten führten leicht in die Irre, weil eine Minderheit an Wohlhabenden die Statistiken besonders stark präge. Für die Konjunktur wäre schon viel gewonnen, flösse auch nur ein Drittel der zusätzlich angesparten Vermögen wieder in den Konsum, wie er ausführt. Für das Fondsgeschäft erwartet er einen Absatz auf höherem Niveau, aber auch keinen außergewöhnlichen Ausreißer nach oben. Das Sparverhalten werde über Jahre hin erlernt und ändere sich nur allmählich, argumentiert er. Zuletzt lag die Zahl der Aktionäre und Aktienfondsbesitzer laut Deutschem Aktieninstitut bei geschätzt 9,7 Millionen. Die Mehrheit der Bevölkerung macht also um das Wertpapier einen Bogen, doch ein paar Aktiensparer dürften im Coronajahr hinzugekommen sein. Immerhin etwas.