"Hessen zockt nicht"

Finanzminister Schäfer verteidigt weitreichendes Derivategeschäft - Sinkende Zinsen führen zu Minus

"Hessen zockt nicht"

Sinkende Zinsen sind eigentlich gute Nachrichten für Finanzminister – nicht so in Hessen. Kurz vor der Landtagswahl muss CDU-Politiker Thomas Schäfer erklären, wieso er milliardenschwere Zinssicherungsgeschäfte in die Wege geleitet hat. Wegen der Niedrigzinsen weisen die Papiere rechnerisch hohe Verluste aus. jsc Wiesbaden – Sinkende Zinsen sind für einen Schuldner wie das Land Hessen mit knapp 43 Mrd. Euro an sich positiv – zwei Monate vor der Landtagswahl muss sich Hessens Finanzminister Thomas Schäfer (CDU) nun aber für umfassende Zinsabsicherungsgeschäfte rechtfertigen, die sein Ministerium unter seiner Führung 2011 in die Wege geleitet hat. Weil das Zinsniveau nach der Finanzkrise stark gefallen war und nach Wahrnehmung des Ministers und seiner Experten sehr leicht wieder hätte steigen können, ließ sich das Land auf Derivategeschäfte ein, um sich das Zinsniveau zu sichern.Die Bedingungen am Kapitalmarkt waren nach Darstellung des Ministeriums damals andere als heute. Über die Emission sehr langlaufender Anleihen hätte das Land nur wenige Mittel einsammeln können, erklärte Schäfer auf einer Pressekonferenz am Montag in Wiesbaden. Der gebürtige Sauerländer, der 2010 von Ministerpräsident Volker Bouffier in das Amt gehoben wurde, wollte daher über Zinsswaps das damalige Niveau absichern. Dabei tauscht das Land variable gegen feste Zinssätze aus und setzt somit verstärkt auf lange Laufzeiten.Der Zinssatz sollte den Plänen zufolge in einem Rutsch für die Anschlussfinanzierung auslaufender Kredite festgesetzt werden, und zwar mittels Forward-Vereinbarungen für die Jahre 2013 bis 2020. Als Laufzeit für die Festzinsswaps peilte das Ministerium 40 Jahre an. Begründung: Das Zinsniveau für langlaufende Schuldinstrumente lag damals für einen Zeitraum über vier Jahrzehnte deutlich niedriger als für lediglich zwei Dekaden. Diese “inverse Zinsstrukturkurve” tritt nur in ungewöhnlichen Marktphasen auf und ermöglichte dem Land aus Sicht des Ministeriums so eine günstige Finanzierung über einen langen Zeitraum. Insgesamt rund ein Fünftel der neu aufgenommenen Schulden sollte auf diese Weise abgesichert werden.2011 schloss das Land daraufhin 65 Zinssicherungsgeschäfte mit einem Gesamtvolumen von 6,5 Mrd. Euro ab, ehe es die Strategie wegen fallender Zinsen kurze Zeit aussetzte und 2014 acht weitere Geschäfte in Höhe von 0,8 Mrd. Euro tätigte. Das Land sicherte sich auf diese Weise Zinsen in Höhe von durchschnittlich 3,1 % über eine Laufzeit von 40 Jahren, berichtet das Ministerium. Hohe Verluste auf dem Papier Seither ist das Zinsniveau bekanntlich weiter gesunken – und weil das Programm einen Milliardenumfang hat und für Jahrzehnte angelegt ist, summieren sich die entgangenen Zinsvorteile sowie die Buchverluste des Derivatebestands auf beachtliche Summen. Bereits 2015 hatte der Hessische Rechnungshof die Mehrkosten allein für eine Tranche auf 375 Mill. Euro über die gesamte Laufzeit beziffert – vorausgesetzt natürlich, die Zinsen bleiben auf niedrigem Niveau. Weil neben der 1 Mrd. Euro schweren Tranche weitere Geschäfte hinzukommen, liegt der rechnerische Verlust vermutlich höher. Der Buchwert der Derivate sank ebenfalls. Unterm Strich weist das Land für Ende 2017 negative Marktwerte in Höhe von 4,2 Mrd. Euro für Zinsderivate aus.Der Bestand der Derivate betrug laut Schäfer zuletzt 20,5 Mrd. Euro, wovon ungefähr die Hälfte auf Zinssicherungsgeschäfte entfalle. Seit Antritt des Ministers hat sich der Derivatebestand damit nahezu verdoppelt. Ob die weitreichenden Geschäfte von Schäfer eine gewagte Wette sind oder aber eine sinnvolle langfristige Absicherung, liegt dabei im Auge des Betrachters. “Hessen zockt” titelte am Wochenende die “Welt am Sonntag” und setzte mit dem Artikel das Finanzministerium in Wiesbaden unter Erklärungsdruck. “Hessen spekuliert nicht, Hessen zockt nicht”, betonte nun der Finanzminister. Wer die Geschäfte als Spekulation bezeichne oder von fragwürdigen Deals und Wetten spreche, habe das “hochkomplexe Thema” entweder nicht verstanden oder verkürze die Debatte bewusst.Die Bundesländer gehen bisher unterschiedliche Wege. Während Bayern, das im Oktober ebenfalls vor einer Landtagswahl steht, laut dem Zeitungsbericht wie auch einige ostdeutsche Bundesländer nicht auf Derivate setzt, weisen Baden-Württemberg mit 4 Mrd. Euro und Bremen mit 3,2 Mrd. Euro ebenfalls hohe Buchverluste aus.Der Hessische Rechnungshof zeigt für die Entscheidung des Ministeriums Verständnis, gibt sich darüber hinaus aber zurückhaltend. “Zum Zeitpunkt der Derivatabschlüsse bestand ein historisches Zinstief”, heißt es in der Erklärung von Montag. “Vor diesem Hintergrund kann der Rechnungshof die Zielsetzung des Ministeriums grundsätzlich nachvollziehen.” Seit September 2017 untersucht die Behörde den Derivatebestand des Landes und diskutiert die Erkenntnisse derzeit “auf Arbeitsebene” mit dem Ministerium. Dabei gebe es zwischen den beiden Häusern in einigen Punkten unterschiedliche Ansichten, erklärte Staatssekretär Martin Worms.Das Ergebnis der Behörde steht dabei noch aus. Valide Daten liegen laut Rechnungshof noch nicht vor, Personalwechsel im zuständigen Referat bremsen demnach die Arbeit. Frühestens in der ersten Jahreshälfte 2019 werde der Bericht veröffentlicht. Einige Hinweise könnte jedoch auch der jährliche Schuldenbericht des Rechnungshofs beinhalten, der voraussichtlich in Kürze veröffentlicht wird.