Indien ist nicht das nächste China

Hier liegt das Potenzial für Investoren

Indien ist nicht das nächste China

Wolfgang FickusMitglied des Investmentkomitees von ComgestIndiens Wirtschaft glänzte im Jahr 2016 mit einem Wachstum von bis zu 9 % als eine der dynamischsten Volkswirtschaften auf dem Globus. Damit liegt für viele die Frage auf der Hand: Wird Indien das nächste China? Die demokratische Kultur, die starke Demografie, der Reformschwung sowie das Wirtschaftswachstum legten diesen Schluss nahe. Paradoxerweise hat das Reformtempo dafür gesorgt, dass Indiens Wirtschaft 2017 in die Vollbremsung ging. Aber zählt das überhaupt? Tatsächlich ist das Wachstum des Sozialprodukts als absolute Größe eine ungeeignete Messlatte für Schwellenländer. Wesentlicher ist die Qualität des Wachstums. Die Verbesserung der Produktivität muss im Vordergrund stehen, um Hunderte von Millionen Inder aus der Armut zu entlassen und eine kräftige Mittelklasse zu bilden. Das ist in Indien einfacher gesagt als getan. Anders als China ist Indien ein extrem junges Land mit großen kulturellen Gegensätzen und Sprachbarrieren. Noch anlässlich seiner Unabhängigkeit vor 70 Jahren galt Indien als unregierbar. Gemessen daran hat sich der Subkontinent gut geschlagen. Fakt ist allerdings, dass großer Nachholbedarf bei harten und weichen Standortfaktoren besteht. Die Investitionen sind seit Jahrzehnten zu niedrig, während das Land mit 300 Millionen Menschen den größten Pool an Analphabeten weltweit aufweist. Das Wachstum beruht vor allem auf dem hohen Bevölkerungszuwachs, der Indien in sechs Jahren zum bevölkerungsreichsten Land der Welt machen wird. Arbeitsplätze für die vielen jungen Menschen zu schaffen, ist das Hauptziel von Premierminister Narendra Modis Reformen. Diese betreffen die Infrastruktur, Bildung, ein investitionsförderndes Rechtssystem und die sogenannte “Financial Inclusion” (Jan Dhan). Sollte Modi scheitern, so wird die starke Demografie zur tickenden Zeitbombe.Auf der anderen Seite steht China. Eine Volkswirtschaft, die bereits die nächste Rakete gezündet hat: innovationsbasiertes Wachstum durch den Einsatz von Technologien wie dem Internet oder der Robotik, eine kaufkräftige und wachsende Mittelschicht, kräftiger Einkommens- sowie Stellenzuwachs und erhebliche Investitionen in Bildung, Forschung und Entwicklung. Eine Volkswirtschaft, die beim derzeitigen Wachstumsrhythmus in acht Jahren zum Club der High-Income-Nationen zählen wird. China hat Indien abgehängt und der Abstand vergrößert sich jedes Jahr. Damit ist es zum jetzigen Zeitpunkt verfrüht, zu fragen, ob Indien das nächste China wird. Diese Frage wird sich überhaupt erst ernsthaft stellen lassen, wenn Modi es schaffen sollte, Indiens Wirtschaft und Gesellschaft zu reformieren. Das braucht Zeit. Wie steht es nun um Modis Reformen? Was die Kapitalmärkte umtreibt, ist Momentum. Hier kann man der Regierung Modi nur gratulieren. Indien ist die Volkswirtschaft, die nach dem globalen Index der Wettbewerbsfähigkeit des Weltwirtschaftsforums über die vergangenen drei Jahre den größten Sprung nach vorn gemacht hat, um 21 Plätze auf Rang 39. Auch die Konjunkturdaten zeigen die ersten Knospen. Laut einer Studie von CLSA, einem auf Asien spezialisierten Broker, hat sich der Auftragseingang der 29 größten Investitionsgüterhersteller des Landes über die letzten drei Jahre um mehr als 20 % erholt. Die chronische Investitionsschwäche zeigt erste Zeichen der Besserung, getragen von öffentlichen Aufträgen. Dementsprechend sind wir bei Comgest ungeachtet aller genannten kritischen Punkte zur Halbzeit seiner Amtszeit zufrieden mit der Arbeit von Premierminister Modi. Die Richtung stimmt, und der Reformwille ist ungebrochen. Das ist entscheidend. Selbst die von vielen für gescheitert erklärte Demonetisierung im Dezember 2016 hat gute Erfolge erzielt. Erstens zeigt sie den unbedingten Willen der Regierung, die Korruption zu bekämpfen. Zweitens hat sie die Steuererhebung sehr verbessert. Und drittens hat sie zur Eröffnung von Millionen von Bankkonten in einem Land geführt, in dem der Großteil der Bevölkerung zum Horten von Bargeld verdammt war. Ist Indien angesichts der vor ihm liegenden Aufgaben damit für Investoren aktuell weniger attraktiv als China? So paradox es klingen mag: Das Gewinnwachstum der Unternehmen korreliert nicht mit dem Wirtschaftswachstum. Zwar ist das Pro-Kopf-Einkommen in China über die vergangenen 20 Jahre mehr als doppelt so stark gewachsen wie in Indien. Indische Unternehmen haben jedoch über denselben Zeitraum ihre Gewinne vervierfacht, während China auf der Stelle tritt. Allerdings hat die Euphorie über Modis Reformen in Verbindung mit gut gemanagten Unternehmen den indischen Aktienmarkt sehr teuer werden lassen. Das Gewinnwachstum ist entgegen dem breiteren Trend in den globalen Schwellenländern stark unter Druck geraten. Wo soll man also investieren?Bei Comgest suchen wir nach starken Geschäftsmodellen zu vernünftigen Bewertungen, um unnötige Risiken zu vermeiden. Natürlich hat Indien eine Mittelschicht und eine junge, wenig verschuldete und wachsende Bevölkerung, die den Wirtschaftsmotor antreibt. Jedoch sind nichtzyklische Konsumwerte eindeutig zu teuer. Bei Gas- und Stromnetzbetreibern wie GAIL und Powergrid finden wir sehr robuste Geschäftsmodelle, die vom Staat garantierte Kapitalrenditen mit hohen wiederkehrenden Einkünften verbinden. Finanzunternehmen verstehen wir als indirektes Investment in den indischen Konsumenten. Das Programm zu finanziellen Eingliederung einkommensschwacher Bevölkerungsschichten “Jan Dhan” etwa treibt das Wachstum im Sektor. Die Verschuldung des indischen Konsumenten gehört zu den niedrigsten der Welt, während etwa der thailändische oder malaysische Konsument zu den weltweit am höchsten verschuldeten zählt. Unsere Aktienselektion konzentriert sich auf sehr gute private Finanzierungsinstitute und Versicherer wie Shriram Transport, Max Financial oder HDFC, die von Reformen profitieren und unrentablen Staatsbanken Marktanteile abnehmen.Erfolgreiche Aktienselektion in Indien fängt mit der Erkenntnis an, dass Indien nicht das nächste China ist. Das Land verfolgt seine eigene Wachstumsstory. Wer das begreift, kann in Indien sehr gute Erträge einfahren.