Ist das transatlantische Bewertungsgefälle einzuebnen?

Der entscheidende Unterschied zwischen den beiden Märkten liegt im Stellenwert der Aktienrückkäufe

Ist das transatlantische Bewertungsgefälle einzuebnen?

In Amerika ist alles eine Nummer größer – Autos, Häuser, Portionen und die Bewertungen am Aktienmarkt. So sind Anleger derzeit der Ansicht, dass US-Unternehmen gut das Dreifache ihres Buchwertes wert sind. Mit einem Kurs-Buchwert-Verhältnis (KBV) von 1,8 scheinen europäische Aktien im Vergleich geradezu spottbillig. Selbst ohne Finanzwerte ergibt sich für den S & P 500 noch ein KBV von 3,6, das damit um einen Faktor 2,3 über dem Wert für den Stoxx 600 liegt. Dass US-Aktien bei Anlegern höher im Kurs stehen als europäische Titel, ist keine vorübergehende Anomalie: Das KBV für amerikanische Unternehmen lag in den letzten zwanzig Jahren im Durchschnitt fast 50 % über dem KBV für den europäischen Aktienmarkt, und mit aktuell 70 % bewegt sich dieser Bewertungsaufschlag am oberen Rand des Spektrums für diesen Zeitraum. Welches Argument greift?Warum bewerten Anleger amerikanische Unternehmen grundsätzlich höher? Oft wird argumentiert, schwerfällige “Industrie-Dinosaurier” belasteten das Bewertungsniveau an den europäischen Märkten, während der Unternehmenssektor in den USA mit einer Vielzahl an hoch bewerteten Technologieriesen gesegnet sei. Doch auch bei Betrachtung des US-Marktes – ohne den gesamten Technologiesektor und den Sektor für zyklische Konsumgüter – verharrt der US-Index bei einem KBV von 3,1. Das Bewertungsniveau des europäischen Index sinkt unter Ausklammerung derselben Sektoren entsprechend.Welche Erklärung greift? Bei der Beantwortung dieser Frage hilft das Gordon-Growth-Modell. Diesem Modell zufolge ist das Kurs-Buchwert-Verhältnis eine Funktion der Eigenkapitalrendite, der Eigenkapitalkosten und des Dividendenwachstums. Gemäß der Gordon-Formel erhöht sich das KBV, wenn Eigenkapitalrendite oder Dividendenwachstum steigen oder aber die Eigenkapitalkosten sinken.Wie steht es also mit der Eigenkapitalrendite, sprich der fundamentalen Gesundheit der Unternehmen? Während US-Unternehmen seit 2011 konstant Eigenkapitalrenditen in einer engen Spanne von 14 bis 15 % erzielen, konnte die europäische Konkurrenz mit durchschnittlich 11,2 % in den letzten fünf Jahren nicht mithalten. Doch was macht US-Unternehmen so viel profitabler? Hier weiß das DuPont-Schema zu helfen. Dieses Kennzahlensystem wurde in den 1920er Jahren von dem US-Chemiekonzern DuPont entwickelt und sieht im Kern die Eigenkapitalrendite als das Produkt dreier Faktoren – Verschuldung, Kapitalumschlag und Umsatzrendite.Welche dieser drei Komponenten ist ausschlaggebend für die höheren Eigenkapitalrenditen amerikanischer Unternehmen? Die Verschuldung ist es nicht, weisen europäische Unternehmen doch durchweg einen höheren Fremdkapitalanteil auf, was gemäß DuPont einehöhere anstatt niedrigere Eigenkapitalrenditen zur Folge haben müsste. Der Kapitalumschlag, definiert als das Verhältnis von Umsatz zu Unternehmensvermögen, ist es auch nicht. Zwar schneiden bei dieser Kennzahl US-Unternehmen deutlich besser ab als die europäische Konkurrenz, doch klammert man den Finanzsektor aus, reduziert sich das Gefälle beim Kapitalumschlag gewaltig.Erst bei der Umsatzrendite, dem dritten für die Eigenkapitalrendite bestimmenden Faktor, lassen US-Unternehmen die europäische Konkurrenz weit hinter sich: Seit 2012 lag die Umsatzrendite für den S & P 500 bei etwa 10 %, während es die Stoxx-600-Unternehmen nur auf knapp die Hälfte brachten. Ohne den Finanzsektor ergibt sich eine Umsatzrendite von rund 8,5 % für den US-Markt im Vergleich zu 5 % für Europa. Höhere Margen in den USAUS-Unternehmen erzielen schlichtweg höhere Margen, egal welche Ergebnisgröße man zugrunde legt: Bruttoergebnis, Betriebsergebnis oder Reingewinn. So ist die Marktkonzentration in den USA erheblich höher, was für höhere Bruttomargen sorgt. In den verschiedensten Branchen, egal ob Fluggesellschaften, Mobilfunkbetreiber oder Banken, haben die vier oder fünf größten Unternehmen einen Marktanteil, von dem die europäische Konkurrenz nur träumen kann. Aufgrund flexiblerer Arbeitsmärkte und weniger Regulierung können US-Unternehmen ihren bereits bei der Bruttomarge bestehenden Vorsprung bei den operativen Margen noch weiter ausbauen.Noch größer wird der Abstand schließlich bei der Nettomarge, da US-Unternehmen weniger Steuern zahlen. Bis 2015 lag die effektive Gesamtsteuerbelastung in den USA einen Prozentpunkt unter dem entsprechenden Niveau für die Unternehmen in Europa. Diese Differenz ist seither sogar auf mehr als drei Prozentpunkte angewachsen. Dieses Margengefälle macht somit fast die gesamte Differenz bei der Eigenkapitalrendite der jeweiligen Indizes aus.Eine höhere Eigenkapitalrendite erklärt den Bewertungsaufschlag für US-Unternehmen jedoch nur zum Teil. Unternehmen mit derselben Eigenkapitalrendite werden von Anlegern nicht immer gleich bewertet, was an den unterschiedlichen Renditeerwartungen der Anleger liegt – sprich den Eigenkapitalkosten, dem zweiten Haupteinflussfaktor in Bezug auf das transatlantische Bewertungsgefälle.Nach neuesten Daten liegen die Eigenkapitalkosten der US-Unternehmen bei knapp 8 %, verglichen mit 8,4 % in Europa. Dieser scheinbar nur kleine Unterschied fällt stark ins Gewicht: Wären die Eigenkapitalkosten in den USA auf dem Niveau Europas, würde das Kurs-Buchwert-Verhältnis für US-Unternehmen ceteris paribus um fast ein Zehntel von 3 auf 2,7 sinken und sich der Bewertungsaufschlag für US-Unternehmen von 70 auf 50 % reduzieren. Der scheinbar geringe Unterschied bei den Eigenkapitalkosten ist daher für fast ein Drittel des gesamten Bewertungsgefälles zwischen den USA und Europa verantwortlich.Warum geben sich Anleger bei Anlagen am US-Aktienmarkt mit einer niedrigeren Renditeerwartung zufrieden? Strukturell mag das sowohl an den im Vergleich zu Europa vielschichtigeren Kapitalmärkten liegen als auch am Umstand, dass US-Aktien in US-Dollar notieren, was sie für internationale Anleger attraktiver macht. Der entscheidende Unterschied zwischen beiden Märkten liegt jedoch im Stellenwert der Aktienrückkäufe. Während Aktienrückkäufe in den USA mehr als die Hälfte des gesamten Ausschüttungsvolumens ausmachen, entfallen darauf in Europa nur knapp 5 %.Der erhebliche Aufschlag beim Kurs-Buchwert-Verhältnis für US-Aktien ist also größtenteils darauf zurückzuführen, dass amerikanische Unternehmen im europäischen Vergleich margenstärker sind und mehr Aktien zurückkaufen. Was muss folglich passieren, um das transatlantische Bewertungsgefälle einzuebnen? Eine Konvergenz bei den Eigenkapitalrenditen setzt eine entsprechende Konvergenz bei den Margen voraus. Wie stehen die Chancen dafür?Auf kurze Sicht könnte die bessere Arbeitsmarktsituation durch höhere Lohnzuwächse an den Margen von US-Unternehmen zehren. In Europa und insbesondere in Frankreich stehen derweil Strukturreformen zur Flexibilisierung des Arbeitsmarktes auf der politischen Agenda. Wenn diese erfolgreich umgesetzt werden, können europäische Unternehmen auf steigende Margen hoffen. Ob diese Veränderungen auf der Kostenseite an die Verbraucher weitergegeben werden oder zu nachhaltigen Margensteigerungen führen, hängt jedoch von der Wettbewerbssituation ab. Bei diesem Thema trennen die Politik diesseits und jenseits des Atlantiks nach wie vor Welten. Härterer Kurs in EuropaWie die jüngsten Maßnahmen gegen große Technologieunternehmen zeigen, fahren die Behörden in Europa einen härteren Kurs in der Wettbewerbspolitik als in den USA. Es benötigt einen Kurswechsel im Ton diesseits oder jenseits des Atlantiks, um Margenentwicklungen nachhaltig zu verändern. Veränderungen bei den Eigenkapitalrenditen dürften sich ohnehin nur langsam vollziehen. In der kurzen Frist scheint hier ein Anstieg der Eigenkapitalkosten für US-Unternehmen wahrscheinlicher – und zwar indem sich Anleger mit dem Ausstieg aus dem Anleihekaufprogramm und weiteren Zinserhöhungen durch die Federal Reserve nicht mehr so stark auf Barausschüttungen von Unternehmen fixieren.—Sebastian Raedler, Leiter der europäischen Aktienstrategie bei der Deutschen Bank—Andreas Bruckner, Europäischer Aktienstratege bei der Deutschen Bank