Kredite für Start-ups als neue Anlageklasse in Europa
Wer einem jungen Unternehmen einen Kredit gewährt, ist wagemutig – und innovativ. Denn in Europa erhalten nahezu alle unternehmerischen Neugründungen Eigenkapital als initiale Kapitalspritze. Dieses Geld kommt meist von Wagniskapitalgebern aus den von ihnen verwalteten Venture-Equity-Fonds. Die Geldgeber gehen das Risiko der Finanzierung unternehmerischer Ideen ein, weil sie wissen, dass rund eine von fünf Investitionen so floriert, dass der Verlust der anderen Investitionen kompensiert wird.
Es gibt jedoch weitere Finanzierungsmöglichkeiten für Start-ups. Unter dem Überbegriff „Wachstumsdarlehen“ – Venture Debt – hat sich in Europa in den vergangenen Jahren eine Nische zur Finanzierung von Wachstumsunternehmen aufgetan. Diese Wachstumsdarlehen ermöglichen es auch Unternehmen ohne klassische Kredithistorie und mit negativem Cash-flow, sich über Fremdkapital zu finanzieren. Diese Form der Finanzierung erlaubt dem Unternehmer, seine Wachstumspläne zu realisieren, ohne weitere Eigentumsanteile an Dritte abgeben zu müssen.
Erfolgsgeschichte aus Berlin
Dass Fremdkapital Gründern die Möglichkeit gibt, uneingeschränkt ihr unternehmerisches Potenzial auszuschöpfen, zeigt die Geschichte eines – heute berühmten – Berliner Start-ups, das sich der Kommunikationstechnologie widmete. Das Unternehmen hatte bei seiner Gründung keinen einzigen Kunden. Aber es besaß ein vielversprechendes Patent. Daher erhielt dieses junge Unternehmen ein Darlehen mit 20-prozentiger Gewinnbeteiligung. Dieses Darlehen verhalf dem Unternehmen, das ein ehemaliger Offizier und Elektromechaniker in einem Berliner Hinterhof in der Schöneberger Straße gegründet hatten, zu einer seit Jahrzehnten währenden Erfolgsgeschichte. Heute, rund 170 Jahre später, beschäftigt die Firma weltweit mehr als 370000 Menschen und erzielt 87 Mrd. Euro Jahresumsatz: die Siemens AG.
Der erste Siemens-Investor machte es genauso, wie heute Venture-Debt-Investoren vorgehen sollten, um ihr Geld erfolgreich anzulegen: Er beurteilte das Geschäftsmodell aus der Perspektive eines Eigenkapitalgebers. Ein Venture-Debt-Investor beurteilt vorrangig das Geschäftsmodell, die Umsatzentwicklung, die Managementfähigkeiten und ob die Verantwortlichen eine klar definierte Strategie haben, um weiteres Eigenkapital einzuwerben. Damit einhergehend ist entscheidend, ob die Unternehmensführung über ausreichend Erfahrung verfügt und so diversifiziert aufgestellt ist, um ein Umsatzwachstum von jährlich mindestens 30% zu schaffen.
Zwei Investorenperspektiven
Dieser ersten Beurteilung folgt der Perspektivwechsel. Ein Investor nimmt dann die Sichtweise eines Kreditgebers ein, fragt, wie das Unternehmen den Zins bedienen kann, wie es den Kredit abbezahlt und welche Sicherheiten es gibt, falls die Firma in eine finanzielle Schieflage gerät. In den meisten Fällen refinanziert ein Unternehmen einen Kredit, indem es sich frisches Eigenkapital besorgt. Beurteilt ein Venture-Debt-Investor also die Kreditwürdigkeit, sollte er sich auf die Umsatzentwicklung und die davon abgeleitete Attraktivität für Eigenkapitalinvestoren konzentrieren. Er sollte zudem die Gesellschafterstruktur und deren „Commitment” im Blick haben. Denn dies ist ebenfalls wichtig für die Einschätzung, ob und wie ein junges Unternehmen weiteres Eigenkapital beschaffen kann.
Hat ein Venture-Debt-Geldgeber dies alles geprüft und dem jungen Unternehmen ein Wachstumsdarlehen gewährt, fängt das Start-up üblicherweise an, den Kredit zu tilgen. Es verwendet also einen Teil des geliehenen Gelds, um das Wachstumsdarlehen zurückzuzahlen. Der frühzeitige Tilgungsbeginn und die üblicherweise kurze Laufzeit von rund 24 Monaten senken das Risiko, dass der Geldgeber eingeht – und können mit einer belastbaren Besicherung ergänzt werden.
Gutes Rendite-Risiko-Profil
Doch was ist bei einem jungen Unternehmen eine belastbare Besicherung? Patente scheinen hierfür attraktiv. Aber muss ein Geldgeber sie im Notfall verwerten, können Probleme auftauchen. Der Zielmarkt an Käufern von Patenten ist meist sehr übersichtlich. Zudem führt das Herauslösen eines Patentes aus einer unternehmerischen Infrastruktur und den damit verbundenen Schlüsselpersonen oft zu (weiteren) Wertabschlägen. Daher bevorzugen Venture-Debt-Investoren andere Besicherungen, zum Beispiel über Abtretungserklärungen direkt auf die Umsätze, das heißt auf die Zahlungen der Kunden zugreifen zu können.
Als Gegenleistung für ihr Darlehen erhalten Venture-Debt-Anbieter vom Unternehmen die Zinszahlungen und die Option, Eigenkapital zu erwerben. Im Ergebnis erwirtschaften Venture-Debt-Fonds Renditen von im Schnitt jährlich 10 bis 15% auf Basis des Kredits. Werden zusätzlich Eigenkapital-Komponenten berücksichtigt, liegen die Renditen bei 15 bis 25% pro Jahr. Damit ergibt sich für Venture Debt ein attraktives Risiko-Rendite-Profil. Zum Vergleich: Die durchschnittlich angestrebte Rendite europäischer Wagniskapital-Fonds (Venture-Capital-Fonds) ist bei 30% p.a. Das Kapital eines Fonds ist im Schnitt für sechs Jahre in einem Unternehmen gebunden. Mit einer dreimal so langen Kapitalbindungsdauer als Venture Debt sind Venture-Capital-Investoren weniger flexibel, um auf rasch sich ändernde technologische Trends reagieren zu können.
Ein Zeichen der Stärke
Natürlich profitieren nicht nur Wachstumsdarlehen-Geber. Für ein Start-up- ist die Einbindung von Fremdkapital strategisch dann klug, wenn die Gründer und die frühen Eigenkapital-Investoren annehmen, dass das Unternehmen schnell wachsen wird. Denn dank des Wachstumsdarlehens können sie verhindern, dass sie Unternehmensanteile an neue Investoren abgeben und sich somit überproportional verwässern müssen. So können sie zu einem späteren Zeitpunkt eine Kapitalerhöhung vollziehen, wenn das Unternehmen weitere Erfolge verzeichnet und höher bewertet wird. Die Aufnahme von Fremdkapital ist somit auch ein Zeichen der Stärke und der Zuversicht des Managements in die Wachstumsperspektive und die Unternehmensstrategie.
In den USA sind mittlerweile etwa ein Viertel aller Wagniskapitaltransaktionen über Wachstumsdarlehen finanziert. Auf dem europäischen Kontinent liegt ihr Anteil bei lediglich 2 bis 3%, was einem Marktvolumen von rund 1 Mrd. Euro jährlich entspricht. Das liegt vor allem daran, dass der Zielmarkt an attraktiven technologiegetriebenen Unternehmen bisher zu klein war – doch das ändert sich gerade.
In den vergangenen zehn Jahren flossen in Europa durchschnittlich jedes Jahr 20 Mrd. Euro an Eigenkapital in Unternehmensgründungen. So etablierte sich eine ausreichend große Zahl an attraktiven Unternehmen, die finanziell nicht mehr ganz am Anfang stehen und Geschäftsmodelle vorweisen, die tragfähig und skalierbar sind. Dieses „Start-Up-Ökosystem” dürfte weiter wachsen. Das Marktpotenzial für Venture Debt in Europa beläuft sich Schätzungen zufolge auf 10 Mrd. bis 20 Mrd. Euro pro Jahr und stellt für Investoren eine neue attraktive Anlageklasse dar.