London nicht außen vor lassen

EU-Bereichsleiter Lüder: Weiterentwicklung der Kapitalmarktunion braucht englisches Know-how

London nicht außen vor lassen

Bei den Verhandlungen zwischen der EU und Großbritannien über den Brexit gelte es, die Expertise Londons für die Weiterentwicklung der Kapitalmarktunion zu bewahren. Diese Ansicht vertritt Tilman Lüder, Bereichsleiter Wertpapiermärkte bei der EU-Kommission.Von Thomas Spengler, StuttgartDie Europäische Union (EU) sollte bei der Weiterentwicklung ihrer Kapitalmarktunion Großbritannien trotz des Brexit-Referendums vom vergangenen Juni nicht außen vor lassen. Aufgrund seiner überragenden Bedeutung auf diesem Gebiet müsse der Zugang für das Vereinigte Königreich zu den europäischen Finanzmärkten in “irgendeiner Form” offen gehalten werden. Mit diesem Appell an die europäische Politik macht sich Tilman Lüder, der bei der EU-Kommission in Brüssel den Bereich Wertpapiermärkte leitet, für die Aufrechterhaltung von möglichst viel Binnenmarkt zwischen der EU und Großbritannien stark. “Beide Seiten sollten Kurzschlusshandlungen vermeiden, die Verhandlungen über die weitere Art der Zusammenarbeit erschweren würden”, sagte er auf einem Kongress zur europäischen Finanzmarktrichtlinie (Mifid), den die Börse Stuttgart zum zehnten Mal in Folge in der baden-württembergischen Landeshauptstadt ausgerichtet hat.Lüder begründete seine Forderung mit der enormen Expertise, die am Finanzplatz London vorhanden sei und ohne die es zu großen Effizienzverlusten an den Märkten und bei der Regulierung kommen würde. “Dieses Know-how aufzugeben wäre ein gravierender Fehler”, warnte er. Auch Uwe Burkert, Chefvolkswirt der Landesbank Baden-Württemberg (LBBW), gestand den Briten großes Kapitalmarktwissen zu. Dies in Frankfurt oder Paris aufzubauen, würde das restliche Europa zwischen zehn und 15 Jahre kosten. Burkert mahnte an, im Verhältnis zu Großbritannien möglichst früh stabile Rahmenbedingungen zu schaffen, damit sich die Kapitalmärkte darauf einstellen könnten.Die “Reduzierung von Unsicherheit” durch die Kapitalmarktunion, wie Burkert es nannte, sei auch der Schlüssel dafür, mehr Investitionen über den Kapitalmarkt und damit mehr Wachstum generieren zu können. Voraussetzung sei der “Wandel von einer Spekulations- hin zu einer Beteiligungskultur” an den europäischen Finanzmärkten.Ob es aber insbesondere für mittelständische Unternehmen immer sinnvoll erscheint, sich am Kapitalmarkt zu refinanzieren, stellte Burkert ausdrücklich in Frage. “Es kann gute Gründe geben, warum Familienunternehmen die damit verbundenen Transparenzanforderungen scheuen”, sagte er. Finanzierung für den SüdenÄhnlich äußerte sich Georg Baur, Mitglied der Geschäftsleitung des Bundesverbandes Öffentlicher Banken Deutschlands (VÖB), der die Finanzierungsvoraussetzungen des deutschen Mittelstands als gut aufgestellt ansieht. Dagegen gehe es im Rahmen der Kapitalmarktunion eher darum, für Unternehmen aus der südeuropäischen Peripherie neue Finanzierungsquellen zu erschließen. Eine verstärkte bankenunabhängige Kapitalmarktfinanzierung sei dabei aber stets als Ergänzung bei der Unternehmensfinanzierung zu betrachten. “Der Unternehmenskredit wird dadurch nicht obsolet”, sagte Baur. Darüber hinaus sei die langfristige Sichtweise eines familiengeführten Betriebs oft nicht mit der kurzfristig orientierten Spekulationssicht am Kapitalmarkt vereinbar.Indessen wies Burkert auf die Bedeutung neuer Finanzierungsquellen mit Blick auf die Herausforderungen durch die Digitalisierung hin. Deren Umsetzung bedürfe eines größeren Finanzierungsvolumens, als man sich das bisher vorstellen könne. “Und darauf sind wir auch in Deutschland nicht vorbereitet”, sagt der LBBW-Chefvolkswirt.Als Voraussetzung für die Erschließung zusätzlicher Finanzierungsquellen für Unternehmen auf europäischer Ebene sieht Jella Benner-Heinacher, stellvertretende Hauptgeschäftsführerin der Deutschen Schutzvereinigung für Wertpapierbesitz (DSW), eine Revitalisierung des Aktienmarktes für den Privatanleger. “Das ist für uns essenziell”, sagte sie und äußerte die Hoffnung, dass die europäische Kapitalmarktunion ein Leuchtturmprojekt werden könnte, in deren Rahmen mittelständische Unternehmen bankenunabhängiger werden könnten.Mit dazu beitragen soll auch eine Reform der Wertpapierprospekte, die an Mittelständler wesentlich weniger Anforderungen stellen soll, als dies bei Blue Chips der Fall ist. “Vor allem bei den Risikobewertungen soll es hier große Erleichterungen geben”, sagte Lüder. Dadurch würde der größte Kostenblock bei der Prospekterstellung, die Honorare für beratende Juristen, wesentlich geringer ausfallen als bisher.Vielleicht, so äußerte Lüder die Hoffnung auf eine irgendwie geartete weiter enge Bindung von Großbritannien an die EU, erwiesen sich die mittelständischen Unternehmen mit ihrem Kapitalmarktbedarf und die Mifid als “der Kitt, der uns zusammenhält”.