LEITARTIKEL

Mission Impossible

Wer ist derzeit die ärmste Wurst auf Europas Kapitalmarkt? Ist es einer jener Chief Operating Officer, die nach dem Brexit-Entscheid auf Drängen der Aufsicht Großbankenteile von der Insel auf den Kontinent verlagern müssen, ohne dass die Politik...

Mission Impossible

Wer ist derzeit die ärmste Wurst auf Europas Kapitalmarkt? Ist es einer jener Chief Operating Officer, die nach dem Brexit-Entscheid auf Drängen der Aufsicht Großbankenteile von der Insel auf den Kontinent verlagern müssen, ohne dass die Politik ungefähr wüsste, wie der EU-Austritt vonstattengehen soll? Ist es Deutsche-Börse-Chef Carsten Kengeter, vor gut einem Jahr noch Konsolidierer der europäischen Börsenlandschaft, nun ein Manager, der erst Hessens Börsenaufsicht, dann die Staatsanwaltschaft sowie die Finanzaufsicht gegen sich aufgebracht hat – und zwar durch eigenes Verschulden? Gute Chancen, solche Kandidaten auszustechen, hat Guido Ravoet, Generalsekretär des European Money Markets Institute (EMMI). Er sitzt in der Brüsseler Avenue des Arts und grübelt, wie nach dem Skandal um Zinsmanipulationen die bis Ende 2019 von der EU geforderte Reform des Zins-Benchmark-Satzes Euribor aussehen könnte. Diese erfordert tatsächlich Kunst.Das Problem: Am Euribor hängen Finanzkontrakte im Nominalvolumen von geschätzt über 180 Bill. Euro, zudem fast ein Drittel aller privaten Hypothekenkredite der Eurozone, ferner alle Assetmanager, die ihn als Orientierung nutzen, und Banken, die mit ihm ihre Zinsrisiken steuern. Der Fluss an Transaktionen am unbesicherten Interbankenmarkt aber, welche die Grundlage zu seiner Berechnung bilden, ist zunehmend versiegt, weil sich Institute inzwischen anderweitig finanzieren, weil Interbankenforderungen sie regulatorisch in Nachteil bringen und weil seit Beginn der Krise ohnehin besicherte Finanzierungen auf dem Vormarsch sind. Seit dem Zinsskandal steht aber fest, dass der Euribor nicht mehr auf Schätzungen, sondern auf Sätzen aus tatsächlichen Transaktionen beruhen soll. Inzwischen aber ist deren Volumen zu dünn, um noch einen gescheiten Maßstab abzugeben: Der Markt richtet sich nach einer Benchmark, die keine mehr ist: Reform als Mission Impossible.Beim Versuch, zu verhindern, dass ihm der Laden um die Ohren fliegt, steht Ravoets gemeinnützige EMMI als sogenannter Benchmark-Administrator mit kaum mehr als einer Handvoll Mitarbeitern allein auf weiter Flur. Schon bevor die Deutsche Bank 2015 für Zinsmanipulationen mit Zahlungen von 2,5 Mrd. Dollar büßte, war der Kreis der Sätze für die Euribor-Kalkulation meldenden Banken, deren nationale Verbände EMMI-Mitglieder sind, beständig geschrumpft. Die Rette-sich-wer-kann-Haltung spiegelt sich auch auf Ebene der Aufseher: In Gestalt der belgischen Financial Services and Markets Authority (FSMA) soll eine der schmalbrüstigsten Aufsichtsinstanzen Europas die wichtigste Reform am Kapitalmarkt seit langem durchwinken. Häuser wie die Deutsche Bundesbank, die BaFin und die EZB, so scheint’s, stehen nur hinter der EMMI, um sich dort zu verstecken.Inzwischen existiert zwar ein Euribor-“College” aus 18 nationalen Aufsehern, der Europäischen Wertpapieraufsicht ESMA sowie der EZB als “eingeladener Expertin”. Allzu sehr juckt es die Beteiligten dort aber nicht in den Fingern, zumindest nicht so, dass sie riskieren wollten, sich an der Euribor-Reform die Finger zu verbrennen: Man will das Treiben in Brüssel “weiter eng überwachen”. ESMA zeigt zwar Interesse, EU-Benchmarks wie den Euribor zu beaufsichtigen. Da deren Hauptnutzer aber die Marktteilnehmer seien, sollten sie auch primär verantwortlich sein, meint sie. Der Markt soll es also regeln – als ob die breit angelegte Zinsmanipulation nicht ein Paradebeispiel für Marktversagen wäre. Und als ob die Aufsicht auch sonst nicht jedes Detail festlegte. Bleibt die Zahl der Transaktionen im Euribor so schmal wie derzeit, wird das EMMI die Benchmark zumindest in Teilen weiter mit Hilfe von Schätzungen berechnen müssen. Dies öffnet Rechtsrisiken Tür und Tor, deren Anblick Hedgefonds schon jetzt Dollarzeichen ins Gesicht zaubern dürfte.Dies ist Europas unwürdig. Der Euribor ist eine systemrelevante Benchmark, deren Bedeutung jede Dimension, in welcher Banken sich allein um sie kümmern können, verlassen hat. Aufsicht und Regulierung, die das Wachstum zugelassen haben, dürfen die Reparatur nun nicht auf Ravoet und das EMMI abwälzen, sondern müssen entscheiden, ob eine Reform den Euribor retten kann – oder eben nicht. Die Reform des Euribor ist kraft Masse der an ihm hängenden Finanzinstrumente längst von einem Problem des Marktes zu einem der Aufseher geworden, ganz nach einem aus der Kreditwirtschaft bekannten Sprichwort: “Schuldest du einer Bank einhunderttausend Euro, gehörst du der Bank. Schuldest du ihr einhundert Millionen Euro, gehört dir die Bank.”——–Von Bernd NeubacherBanken und Aufseher lassen das gemeinnützige Institut EMMI bei der Reform des Euribor hängen. Das ist Europas unwürdig.——-