Nachhaltigkeits-Check für Staaten überrascht

ESG-Niveau der meisten Länder ist in den letzten Jahren gesunken und dürfte sich auch weiter negativ entwickeln

Nachhaltigkeits-Check für Staaten überrascht

Nachhaltige Geldanlagen sind im Trend. Geht es um die Betrachtung von Staatsanleihen, wurde das Nachhaltigkeitsresearch von Staaten bislang vernachlässigt. Ein umfassendes Modell schließt die Lücke – mit überraschenden Ergebnissen.Grünes Geld, ethisches oder sozial verantwortliches Investieren: Nachhaltigkeit kennt viele Begriffe. Allein hierzulande lag das Anlagevolumen in diesem Bereich laut Branchenverband “Forum für Nachhaltige Geldanlagen” (FNG) Ende 2017 bei 171 Mrd. Euro – so viel wie nie zuvor. Vor dem Hintergrund der zunehmenden geopolitischen und ökonomischen Unsicherheiten rücken nun auch die Nachhaltigkeitsrisiken einzelner Staaten in den Fokus.Als Teil des Managements langfristiger Risiken gewinnt Nachhaltigkeit in den Portfolien immer stärker an Bedeutung. Wir gehen davon aus, dass die überwiegende Mehrheit der europäischen Investoren in den kommenden drei Jahren die ESG-Faktoren Umwelt, Soziales und Unternehmensführung deutlich stärker bei ihrer Anlageauswahl berücksichtigen. Die Politik forciert diesen Trend zusätzlich.Die EU etwa schließt in ihrem “Sustainable Finance Action Plan” unterschiedliche Stakeholder in ihr Klassifikationssystem für nachhaltige Finanzierung ein. Danach sollen sich wirtschaftliche Aktivitäten anhand von harmonisierten Kriterien auf Basis eines Richtlinienvorschlags auf ihre Nachhaltigkeit überprüfen lassen. Auf diese Weise will die vorgeschlagene Verordnung verdeutlichen, wie institutionelle Investoren, darunter Vermögensverwalter, Versicherungsunternehmen, Pensionseinrichtungen oder Anlageberater, die ESG-Faktoren in ihren Investitionsentscheidungsprozessen berücksichtigen sollen. Die EU-Kommission fokussiert sich im Rahmen ihres Vorhabens derzeit vor allem auf die Themen Umwelt- und Klimaschutz.Die Herausforderung: Trotz der wachsenden Bedeutung der ESG-Kriterien konzentrierte sich das Nachhaltigkeitsresearch in der Praxis fast ausschließlich auf Unternehmen – während die Berücksichtigung von Staaten kaum erfolgt ist. Bestand der Fokus bei der Analyse im Bereich festverzinslicher Wertpapiere in erster Linie auf der Unternehmensseite, gehen wir vor dem Hintergrund des steigenden Kundeninteresses einen deutlichen Schritt weiter, zumal gerade die Risikoeinschätzung von Staatsanleihen ein wichtiger und wertvoller Input für unsere Anlageentscheidungen ist. Daher haben wir unser bestehendes Modell, das bereits 2012 als Staatsanleihemodell Umweltrisiken berücksichtigte, weiterentwickelt.Das länderspezifische Nachhaltigkeitsmodell basiert auf 48 gleich gewichteten Input-Parametern wie Treibgasemissionen, Bildungsausgaben, Lebenserwartung oder Kinderarbeit. Die dafür erforderlichen Daten stammen von länderübergreifenden Institutionen wie der Weltbank, den Vereinten Nationen, der US Energy Information Administration sowie der Internationalen Arbeitsorganisation. Insight hat 186 Länder untersucht, 31 Staaten fanden wegen mangelhafter oder fehlender Daten keine Berücksichtigung.Kernpunkte der Analyse sind zwei Bewertungen für jedes Land: ein Nachhaltigkeitsrating und ein Momentum-Faktor. Ersteres kann dazu beitragen, zwischen Führungsnationen und Nachzüglern zu unterscheiden und Länder zu identifizieren, die durch ESG-Themen am stärksten beeinträchtigt sind. Der ESG-Momentum-Faktor wiederum spiegelt den Trend für die Verbesserung oder Verschlechterung des ESG-Ratings wider und oszilliert zwischen plus 1 (maximal mögliche Verbesserung) und minus 1 (maximal mögliche Verschlechterung).Im ESG-Gesamtrating unseres Modells zählt Deutschland zur Ländergruppe mit der Bestnote 1. Hingegen schafft es die Bundesrepublik beim ESG-Momentum-Faktor, also dem Trend, nicht einmal unter die ersten 100 Plätze. Das einzige Land, das in beiden Bereichen zu den Top 10 gehört, ist Lettland. Beim Gesamtergebnis liegt Neuseeland auf Platz 1. Der Inselstaat am anderen Ende der Welt punktet mit stabilen Institutionen und einer intakten Sozialstruktur sowie einer nur begrenzten Exponierung gegenüber Umweltrisiken.Ein Ergebnis, das zumindest auf den ersten Blick überrascht: Die Elfenbeinküste ist der Staat, dessen ESG-Faktoren sich nach dem Bürgerkrieg um die Jahrtausendwende und jahrelangen Bemühungen zum Wiederaufbau der Wirtschaft und Infrastruktur am stärksten verbessert haben. Schlusslicht ist Afghanistan, das nach vielen Konfliktjahren politisch und sozial instabil ist und nur über wenige Nachhaltigkeitsfaktoren verfügt. Gleichwohl gilt es, bei der Betrachtung des Momentums den Basiseffekt zu beachten – mithin, auf welchem ESG-Niveau sich die Länder befinden. So muss man berücksichtigen, dass Staaten mit schlechtem ESG-Status ein viel größeres Potenzial für Verbesserungen bergen. Daher sollte man diesen Staaten auch nicht kategorisch den Geldhahn zudrehen.Allgemein lässt sich feststellen, dass das ESG-Niveau der meisten Länder in den vergangenen Jahren gesunken ist – und sich auch weiter negativ entwickeln dürfte. Dabei schneiden Industrieländer mit einem höheren Pro-Kopf-Einkommen in Bezug auf Governance und Soziales derzeit positiv ab, in Umweltfragen jedoch weniger gut. Ebenso haben Staaten mit einem höheren Bruttoinlandsprodukt (BIP) pro Kopf in der Regel bessere ESG-Ratings. Nicht zuletzt legen die Resultate unseres länderspezifischen Nachhaltigkeitsmodells nahe, dass sich allen voran der Faktor Governance in mehr als der Hälfte der entwickelten Staaten verschlechtert hat.—-Olaf John, Head of Business Development Europa bei Insight Investment