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Neue Börsengänge braucht das Land

Börsen-Zeitung, 5.6.2020 "Die Liquidität folgt der Bonität und nicht umgekehrt", lautet ein Postulat von Wolfgang Stützel, einem der ersten "Wirtschaftsweisen". Solide Unternehmen bekommen (stets) Kredit und Kapital. Liquiditätskrisen schlagen in...

Neue Börsengänge braucht das Land

“Die Liquidität folgt der Bonität und nicht umgekehrt”, lautet ein Postulat von Wolfgang Stützel, einem der ersten “Wirtschaftsweisen”. Solide Unternehmen bekommen (stets) Kredit und Kapital. Liquiditätskrisen schlagen in umgekehrter Maßgeblichkeit nur bei zu niedrigen Eigenkapitalquoten negativ auf die Solvabilität durch. So etwa 2008, als die Eigenmittelausstattung des globalen Bankensektors viel zu dünn war. Ähnliches ist aktuell zu befürchten, da die durch die Pandemie ausgelöste konjunkturelle Vollbremsung und Liquiditätsverknappung auf eine überschuldete und damit unterkapitalisierte Welt trifft. Nebenwirkung der GeldpolitikPars pro toto sei in diesem Zusammenhang die Börsenkapitalisierung der Aktienmärkte genannt. Seit 2010 ist die Anzahl der an der Deutschen Börse gelisteten Unternehmen von gut 1 500 auf rund 650 gefallen, also um mehr als 55 % – eine schockierende Entwicklung. Börsengänge sind in Deutschland mittlerweile gar eine “bedrohte Spezies”. International zeigt sich ein ähnliches Bild: So ist in den USA die Zahl seit dem Höchststand im Jahr 1996 um rund 45 % zurückgegangen.Vermutlich ist dies auch unbeabsichtigte Folge der unorthodoxen Maßnahmen der Notenbanken: Zinssätze nahe oder unter null bedeuten, dass Fremdkapital quasi nichts kostet, kognitiv dissonant mitunter sogar als Geschenk gesehen wird. Durch die Markteingriffe werden darüber hinaus die Risikoprämien bei Anleihen künstlich niedrig gehalten. Fundamentale Preisfindungsmechanismen und allokative Signalfunktionen werden zunehmend ausgeschaltet. Dabei steigt die Attraktivität von Fremd- im Vergleich zu Eigenkapital, mit friktionalen Auswirkungen auf altbewährte Kapitalstruktur- und Finanzierungsnormen (“Goldene Bilanzregel”). Beim Leverage-Effekt kommt es zur Erhöhung des Fremdkapitalanteils, um die Eigenkapitalrenditen zu optimieren. Dies spiegelt sich in zunehmenden Aktienrückkaufprogrammen wider, zu deren teilweiser Finanzierung dabei oft Unternehmensanleihen begeben werden. Ein Schelm, wer Böses dabei denkt.Billiges Zentralbankgeld hat noch über einen weiteren Kanal dazu beigetragen, dass Firmen vom Kurszettel verschwunden sind: via Fusionen und Übernahmen. Volle “Kriegskassen” und Kredite zum Nulltarif erhöhen die Bereitschaft, es auf einen Versuch ankommen zu lassen. Und das, obwohl die Erfahrungen auf meist fehlenden Mehrwert und hohe volkswirtschaftliche Kosten großer Zusammenschlüsse hinweisen.Mittelfristig birgt der Rückzug von der Börse Gefahren für Aktieninvestoren. Bei einer nachhaltigen Verringerung des Aktienuniversums laufen Anleger nämlich in Diversifikationsprobleme. Konzentrierte Portfolios wären zwar weiter möglich, deren Effizienz leidet aber mit dem kleiner werdenden Anlageuniversum.Noch schwerer wiegt, dass historisch aus Überschuldung viele Krisen entstanden sind. Somit verwundert es nicht, dass es in der “Großen Finanzkrise” zu einer Reregulierung des systemrelevanten Finanzsektors kam, verbunden mit oftmals verordneten, deutlichen Kapitalisierungsmaßnahmen. Vergleichbare regulatorische Kapital- und Liquiditätsvorschriften für den gesamten Unternehmenssektor mögen nicht zielführend sein. Aber die Vorteile einer robusten Eigenkapitalausstattung liegen auf der Hand. Viele Firmen müssen gerade aktuell schmerzlich feststellen, dass jeder Aufschwung einmal ein Ende hat, mitunter recht abrupt. Wohl dem, der dann über ein eigenes Polster verfügt, von dem gezehrt werden kann. Das “Sparen in der Zeit, dann hat man in der Not” der vielzitierten “schwäbischen Hausfrau” bleibt eine zeitlose Handelsmaxime nicht nur für den Unternehmenssektor. Aktienkultur belebenWie kann der Trend rückläufiger Börsennotierungen gestoppt werden? Nun, erstens würden normalere Zinsniveaus – sprich positive Leitzinsen – helfen, die Opportunitätskosten von Fremdkapital zu erhöhen. Der optimale Zeitraum – die konjunkturell guten Jahre 2015 bis 2018 – wurde jedoch verpasst. Hier und jetzt ist weniger die Frage ob, sondern vielmehr wie lange die tiefe Rezession anhalten wird. Zinserhöhungen sind damit in weite Ferne gerückt.Umso wichtiger ist daher zweitens, das dicke Brett “Aktienkultur in Deutschland” weiter zu bohren – bekanntlich eine Jahrhundertherausforderung. Eine allgemeinere Wertschätzung von Aktien als sinnvolle langfristige Anlage und unerlässlicher Teil der privaten Altersvorsorge könnte bewirken, zur Finanzierung unternehmerischen Wachstums den Kapitalmarkt anzuzapfen. Daher sollte weiter – besser wieder – an der Umsetzung der Vorschläge gearbeitet werden, die 2015 der vom damaligen Bundeswirtschaftsminister Sigmar Gabriel ins Leben gerufene Arbeitskreis “Mehr Börsengänge von jungen Wachstumsunternehmen in Deutschland” vorgestellt hatte.Gebetsmühlenartig vorzutragende Stichworte hierbei sind: höhere steuerliche Freibeträge, Wiedereinführung der Spekulationsfrist für Aktien, mehr steuerliche Abzugsfähigkeiten für Altersvorsorgebeiträge und ein klares Nein zur Finanztransaktionssteuer. Ohne verhaltensökonomisches Anstupsen – neudeutsch Nudging – wird es nicht gehen. So könnte ein Aufwärtsprozess in Gang gesetzt werden aus mehr Neuemissionen, zusätzlichen Notierungen, einem stärker diversifizierten Anlageuniversum und mehr privaten Aktienanlagen, was wiederum die Attraktivität des gesamten Ökosystems erhöhen würde. Ein Börsengang ist immer der krönende Abschluss einer Eigenkapitalfinanzierung. Denn mit Blick auf die Mobilisierung breiter Anlegerkreise und die problemlose Übertragung von Eigentumsrechten ist die Aktie unschlagbar. Mehr denn je gilt: Neue Börsengänge braucht das Land, “ich sprüh’s auf jede Häuserwand”! Ingo Mainert ist CIO Multi Asset Europe bei Allianz Global Investors. In dieser Rubrik veröffentlichen wir Kommentare von führenden Vertretern aus der Wirtschafts- und Finanzwelt, aus Politik und Wissenschaft.—-Von Ingo MainertDie Zahl der börsennotierten Unternehmen sinkt seit Jahren. Für Investoren folgen daraus Diversifikationsprobleme und Effizienzeinbußen.—-