Nordrhein-Westfalen - auf Stahl gebaut
Die Zukunft des Stahls beginnt in den Forschungslaboren. Wer hätte sich vor zehn Jahren vorstellen können, dass menschliche Eigenschaften einmal auf metallische Werkstoffe übertragbar sein werden? Genau das passiert bei “selbstheilenden” Stählen. So wie der menschliche Körper bei Schnittverletzungen oder Brüchen Mechanismen aktivieren kann, die die Spannung zwischen den Zellen wieder in Ordnung bringen, so lässt sich auch Stahl in seinen Eigenschaften und Reaktionsmöglichkeiten beeinflussen. Genau daran arbeiten die Werkstoffwissenschaftler im Düsseldorfer Max-Planck-Institut für Eisenforschung, wenn sie bewegliche Atome in Werkstoffe einbringen. Bekäme zum Beispiel eine Turbine einen Riss, können Atome verstärkt an die kritische Stelle wandern und das Problem beheben. Ein spannendes Potenzial für zukünftige industrielle Anwendung. InnovationsmotorNordrhein-Westfalen (NRW) spielt rund um den Stahl eine ganz entscheidende Rolle als Innovationsmotor. Hier ist das Netzwerk zwischen Hochschulen, Forschungseinrichtungen und Unternehmen besonders eng geknüpft. Hier sind Grundlagen- und Anwendungsforschung in einer solchen Weise mit der Industrie verbunden, dass daraus der Erfolg von Produkten “Made in Germany” entsteht. Nordrhein-Westfalen ist ein traditionelles Kernland der Stahlindustrie. Der hier produzierte hochwertige Stahl hat Schlüsselfunktionen für die industrielle Wertschöpfung in Europa. In Nordrhein-Westfalen werden jährlich rund 16,4 Mill. Tonnen Rohstahl hergestellt, was knapp 40 % der Produktion in Deutschland entspricht. In der Branche sind hier mit 47 600 Menschen über die Hälfte der Stahlbelegschaften in Deutschland beschäftigt. Damit ist Nordrhein-Westfalen ein starkes Stahlland.Die Stahlindustrie hat auch hier in den letzten Jahrzehnten viele Anpassungsprozesse durchleben und bewältigen müssen. Mit Veränderungsbereitschaft und nachhaltiger Modernisierung ist die Branche in Nordrhein-Westfalen aber auf gutem Weg und hat grundsätzlich solide Aussichten. Die Zukunft hängt allerdings stark von äußeren Faktoren ab, die aus zwei Richtungen kommen: die Stahlschwemme vor allem aus China und drohende Belastungen durch die deutsche und europäische Klimapolitik.Da ist zum einen der Umgang der chinesischen Stahlindustrie mit der Strukturkrise in der Branche. Die chinesischen Stahlhersteller verweigern sich der Anpassung an eine dramatisch gesunkene Nachfrage in ihrem Land. In der Dimension historisch einmalige Überkapazitäten von Hunderten Millionen Tonnen Rohstahl fluten die Weltmärkte. Eigene Strukturprobleme werden mit wettbewerbsschädigenden Folgen in andere Regionen über gedumpte und damit unfaire Exporte verlagert. Zu den direkten Exporten kommen erhebliche “Kaskadeneffekte”, das sind etwa chinesische Ausfuhren in asiatische Länder, die dort beispielsweise europäische Exporte verdrängen. Die Folge: massive Verschiebungen der weltweiten Stahl-Handelsströme zu Lasten insbesondere des offenen europäischen Stahlmarkts und damit letztendlich auch Nordrhein-Westfalens.Rund die Hälfte der weltweiten Rohstahlerzeugung von rund 1,6 Mrd. Tonnen kommt inzwischen aus dem Reich der Mitte; dort befinden sich etwa zwei Drittel der weltweiten Überkapazitäten, und China ist für ein Drittel aller globalen Stahlexporte verantwortlich. Zudem ist es für jeden offensichtlich, dass das Ziel der chinesischen Regierung, bis 2020 100 bis 150 Mill. Tonnen Rohstahlkapazität zu schließen, bei weitem nicht ausreicht, um die aktuell gewaltigen Überkapazitäten in Höhe von rund 430 Mill. Tonnen spürbar zurückzufahren. Schließlich bleiben auch Zweifel, ob es mit Hilfe planwirtschaftlicher Methoden überhaupt gelingen kann, die unausweichliche Restrukturierung zu bewältigen. Chinas unverantwortlicher Umgang mit seinen Strukturproblemen beim Stahl bedroht die Branche weltweit – auch in Nordrhein-Westfalen. Überkapazitäten begegnenDie europäische Industrie hat dagegen die Erfahrung gemacht, dass marktgetriebene und von den Unternehmen getragene Anpassungsprozesse der beste Weg sind, um dem Problem struktureller Überkapazitäten zu begegnen. Auf dieser Grundlage hat die Stahlindustrie in der EU früher als andere Regionen begonnen, sich an die veränderte Marktlage anzupassen: So ist Europa die Region, die seit 2010 Rohstahlkapazitäten am stärksten reduziert hat.Eine marktgetriebene Anpassung kann aber nur gelingen, wenn es strikte Regeln gibt, die Subventionen insbesondere in der Form von Rettungs- und Restrukturierungsbeihilfen unterbinden. Die jüngsten Diskussionen um das Stahlwerk ILVA in Italien zeigen jedoch, dass eine solche Sichtweise auch in der EU keine Selbstverständlichkeit ist. Wir brauchen aber eine strikte Beihilfedisziplin, da andernfalls unumgängliche Anpassungen verzögert, die Kosten erhöht und zudem auch die wettbewerbsstarken Standorte wie beispielsweise in Nordrhein-Westfalen gefährdet werden. In Europa stehen die Regionen im Wettbewerb. Nordrhein-Westfalen muss sich wehren, wenn falsch gespielt wird und staatliche Beihilfen den fairen Wettbewerb in der EU unterlaufen.Gefahren drohen der Stahlindustrie noch von ganz anderer Seite: Die geplante Verschärfung des Emissionsrechtehandels ab 2021 zwingt der Branche Zusatzkosten auf, die im Wettbewerb gegenüber außereuropäischen Ländern existenzbedrohend wären. Bereits 2020 würden 30 % der notwendigen Zertifikate fehlen; 2030 werden es sogar 50 % sein, wie das Institut Ecofys errechnet hat. Umgerechnet würden für die Stahlindustrie in Deutschland damit durch den erforderlichen Kauf der Emissionsrechte und die emissionshandelsbedingten Strompreissteigerungen Kosten von durchschnittlich 1 Mrd. Euro im Jahr anfallen. Im Jahr 2030 würden sie sogar auf fast 1,6 Mrd. Euro steigen. Drohende BelastungenWelche erheblichen Folgen diese drohenden Belastungen für den Stahlstandort Deutschland und auch für die damit verbundenen Wertschöpfungsketten hätten, hat das Institut Prognos in einem Szenario untersucht. Negative Gewinnmargen würden zu Investitionsverzicht und einem schrumpfenden Kapitalstock führen. Zusammen mit den Rückwirkungen auf die vor- und nachgelagerten Branchen würden 380 000 Arbeitsplätze verloren gehen und das Bruttoinlandsprodukt würde sich um 30 Mrd. Euro reduzieren.Auch die Novelle des Erneuerbare-Energien-Gesetzes ist für die Stahlindustrie von zentraler Bedeutung. Es geht dabei nicht nur um eine kosteneffizientere Ausgestaltung der Erneuerbare-Energien-Förderung durch wettbewerbliche Ausschreibungen. Klarheit ist dringend für die künftige Behandlung der Eigenstromerzeugung erforderlich. Ein erster Schritt in diese Richtung ist die Grundsatzeinigung zwischen Bundesregierung und EU-Kommission. Bestehende Anlagen zur Stromerzeugung aus Kuppelgasen und anderen Restenergien sollen auch künftig von der Umlage befreit bleiben. Nun kommt es auf die gesetzliche Umsetzung an, damit zusätzliche Kostenbelastungen für die Stahlindustrie vermieden und weitere Nachteile im internationalen Wettbewerb abgewendet werden.Die Eigenstromerzeugung der Stahlindustrie ist ein wirkungsvoller Beitrag zum Klimaschutz: Sie ist vollständig CO2-neutral, da die Nutzung dieser Gase den Einsatz von Primärbrennstoffen spart. Jedes Jahr werden in Deutschland auf diese Weise rund 6,4 Mill. Tonnen CO2 eingespart.Das sind aktuell die zwei Perspektiven des Stahls in Nordrhein-Westfalen und Deutschland insgesamt: Einerseits eine Industriebranche, die gut aufgestellt ist und von der Grundlagenforschung bis zur Produktion alle Herausforderungen des 21. Jahrhunderts bewältigen kann. Andererseits wird sie das nur schaffen, wenn ihr bei Handels- und Klimapolitik nicht der Boden unter den Füßen weggezogen wird.—Hans Jürgen Kerkhoff Präsident und Hauptgeschäftsführer der Wirtschaftsvereinigung Stahl