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Plädoyer für einen antizyklischen Krisenmechanismus bei Banken

Börsen-Zeitung, 24.7.2020 Corona legt den Widerspruch zwischen Risikosensitivität der Regulierung und Stabilität des Bankensystems offen. Quick Fixes und die Freigabe von Puffern sind dabei kein dauerhaft überzeugender Krisenmechanismus. Die...

Plädoyer für einen antizyklischen Krisenmechanismus bei Banken

Corona legt den Widerspruch zwischen Risikosensitivität der Regulierung und Stabilität des Bankensystems offen. Quick Fixes und die Freigabe von Puffern sind dabei kein dauerhaft überzeugender Krisenmechanismus.Die Qualität eines Regelwerkes erweist sich in der Krise. So gesehen erscheint die seit der globalen Finanzkrise eingeführten Regulierung für Banken zwiespältig. Eine bessere Eigenkapital- und Liquiditätsausstattung zu Beginn der Coronakrise steht im Kontrast zu systemdestabilisierenden prozyklischen Effekten, die nur durch Ad-hoc-Eingriffe der Regulatoren und Aufseher eingedämmt werden konnten. Dem Regelwerk fehlt ein eingebauter Krisenmechanismus. Besser gerüstetOhne jeden Zweifel haben die seit 2009 als Reaktion auf die globale Finanzkrise eingeführten Regeln für die Kapital- und Liquiditätsausstattung der Banken dazu geführt, dass diese für die Coronakrise wesentlich besser gerüstet waren, als dies vor elf Jahren der Fall gewesen wäre. Das verdient Anerkennung. Dennoch hat die Coronakrise zwei grundlegende Schwächen des Regelwerks offengelegt: die Prozyklizität der Kapital- und Liquiditätsanforderungen einerseits und die nur eingeschränkten Möglichkeiten makroprudenzieller Eingriffe der Regulatoren in Form der Freigabe von Kapital- und Liquiditätspuffern andererseits.Jede Krise hat ihre Besonderheiten, jedoch treten manche Phänomene so regelmäßig in Krisen auf, dass sie gleichsam selbst als Definition für eine krisenhafte Entwicklung gelten können. So nimmt in jeder Krise die Volatilität der Kurse und Zinssätze an den Finanzmärkten zu. Die Liquiditätsnachfrage steigt, während das Angebot abnimmt. Angesichts nachlassender Wirtschaftsleistung steigt das Risiko von Kreditausfällen.Zögen sich die Banken in einer solchen Situation von den Geld- und Kapitalmärkten und aus der Kreditvergabe weiter zurück, würde diese prozyklische Reaktion zu einer Verschärfung der Krise und damit letztlich zum Risiko der Systemdestabilisierung führen. Anstatt nun eine antizyklische Reaktion der Banken zu unterstützen, fördert oder erzwingt das aktuelle Regelwerk der Kapital- und Liquiditätsanforderungen aber gerade ein solch prozyklisches Verhalten.Denn die Regeln folgen einem sehr einfachen und starren Konzept der Risikosensitivität. Nehmen Volatilität und das Risiko von Verlusten zu, so steigen die Kapitalanforderungen. Gleichzeitig verlangt die Liquidity Coverage Ratio (LCR), dass noch mehr Liquiditätspuffer gehalten werden müssen, um zusätzlich zu den in der Krise bereits verstärkten Liquiditätsabflüssen weitere potenzielle Liquiditätsabflüsse abdecken zu können. Schnell reagiertRegulatoren und Aufseher haben dies verstanden und in der Coronakrise außergewöhnlich schnell reagiert. Mit einer Vielzahl von Einzelmaßnahmen, darunter die Anpassung von Fristen und die Änderung von Parametern in den Rechenformeln, haben sie Kapital im dreistelligen Milliardenbereich für die Banken freigesetzt.Diese Reaktion war effektiv, aber Regulatoren und Aufseher glichen einem Kapitän, der mangels zentraler Eingriffsmöglichkeiten die Brücke verlässt, um höchstselbst im Unterdeck an diversesten Schrauben und Ventilen Hand anzulegen und so Geschwindigkeit und Kurs des Schiffes zu steuern. Zentraler Eingriff möglichHier mag man einwenden, dass die Aufseher sehr wohl die Möglichkeit eines zentralen antizyklisch wirkenden Eingriffs gehabt hätten und diese auch genutzt haben. In der Tat wurde der antizyklische Kapitalpuffer freigegeben. Auch wurde den Banken gestattet, die sonst vorgegebene gesetzliche Untergrenze der LCR von 100 % zu unterschreiten. Diese Maßnahmen erwiesen sich aber im Kern als ineffektiv.Dafür gibt es zwei wesentliche Gründe. Das Volumen war zu gering, und die Märkte haben nicht mitgespielt. Der antizyklische Kapitalpuffer wurde erst Mitte 2019 auf 25 Basispunkte festgesetzt und in der Krise wieder auf null zurückgenommen. Die Belastungen der Kernkapitalquote der Banken durch die Krise liegen aber deutlich im dreistelligen Basispunktbereich. Darüber hinaus haben die Banken die Reaktion der Märkte gescheut, angesichts einer Botschaft, sie würden ihre Puffer aufbrauchen.Besonders deutlich war dies in Bezug auf die LCR. Die Sorge der Banken war, dass, würde für eine einzelne Bank die LCR unter 100 % fallen, diese Bank zusätzlich zur marktweiten Liquiditätsknappheit mit einer idiosynkratischen, das heißt nur auf diese spezielle Bank bezogenen Verknappung der Liquidität und damit mit einer für sie existenzbedrohenden Verschärfung der Krise hätte rechnen müssen. Gelöst wurde diese Situation nicht durch die Regulatoren, sondern durch die Zentralbanken – vor allem in Südeuropa, indem sie mehr und andere Sicherheiten von den Geschäftsbanken akzeptiert und so mehr Liquidität in den Bankenmarkt gegeben haben.Wie könnte man nun das Regelwerk weiterentwickeln, um es krisenfester zu machen und dem Kapitän, das heißt der Bankenaufsicht, die Möglichkeit zu geben, das Schiff von der Brücke anstatt aus dem Maschinenraum zu steuern? Zwei Ansatzpunkte bieten sich an: Erstens sollte das Konzept der Risikosensitivität so interpretiert und in das Regelwerk eingebaut werden, dass es in der Krise nicht automatisch zu steigenden Kapital- und Liquiditätsanforderungen kommt. Zweitens sollte ein automatischer und vorhersehbarer Krisenmechanismus in das Regelwerk eingebaut werden, mit dem die dort gebundenen Kapital- und Liquiditätsreserven in der Krise dosiert freigesetzt werden können. Risikosensitivität soll bleibenDas regulatorische Regelwerk muss risikosensitiv bleiben. Wer mehr Risiken eingeht, muss mehr Kapital- und Liquiditätsreserven halten. Außerdem muss das Bankensystem insgesamt über ausreichend Reserven verfügen, um eine Krise zu meistern. Aber es soll in der Krise nicht zum Anstieg der Kapitalanforderungen kommen. Das lässt sich erreichen, indem man in der Parametrisierung der aufsichtsrechtlichen Formeln zur Berechnung der Kapitalanforderungen konsequent die Krise antizipiert und krisensensitive Mechanismen eliminiert.Dazu drei Beispiele: Die Parametrisierung des sVaR (Stress-Value-at-Risk) im Marktrisiko richtet sich im Gegensatz zum VaR (Value-at-Risk) an einer Stress-Situation aus. Dadurch schwankt der sVaR nicht mit der allgemeinen Marktvolatilität, sondern nur, wenn man die Stressperiode anpasst. Auf den komplexen “Ausreißermechanismus”, der in Krisenzeiten zu zusätzlichen Kapitalanforderungen für das Marktrisiko führt, könnte man verzichten. Bezogen auf das Kreditrisiko würde dies bedeuten, dass man für regulatorische Zwecke zu einem echten Through-the-Cycle-Rating käme. Man würde also nicht fragen, wie wahrscheinlich es ist, dass ein Kreditnehmer das nächste Jahr, sondern die nächste Krise überstehen würde. Diese Wahrscheinlichkeit sollte sich im Mittel bei Eintritt der Krise nicht ändern. Wohl aber kann es zu relativen Verschiebungen kommen, wenn wie in der Coronakrise bestimmte Branchen durch die Krise stärker getroffen werden als andere. Und schließlich die Liquidity Coverage Ratio. Sie antizipiert bereits krisenhafte Abflüsse an Liquidität.Das Beispiel der LCR zeigt auch, dass die konsequente Antizipation der Krise in den aufsichtsrechtlichen Formeln allein nicht ausreicht. Darüber hinaus ist ein antizyklischer Krisenmechanismus erforderlich, der in das Regelwerk eingebaut ist und ähnlich dem Kurzarbeitergeld in der Krise selbststabilisierend wirkt. Dies kann man erreichen, indem man die absolute Höhe der Kapital- oder Liquiditätsanforderungen an die jeweilige wirtschaftliche Lage kalibriert. Anders ausgedrückt, die gleiche RWA-Zahl oder der gleiche rechnerische Liquiditätsabfluss erfordern in der Krise eine andere Kapital- oder Liquiditätshaltung als in Nichtkrisen- oder gar Boomzeiten. Ein solcher Krisenmechanismus könnte sich etwa an der Prognose des Bruttoinlandsprodukts oder deren Veränderung festmachen und wäre aufsichtsseitig mit einer entsprechenden Governance zu unterlegen. Drei GründeDies wäre aus drei Gründen überzeugender als bisherige Instrumenten der makroprudenziellen Aufsicht oder die zitierten Quick Fixes: Erstens wäre der Hebel hier wesentlich größer als bei den Instrumenten der makroprudenziellen Aufsicht. Zweitens wäre die Botschaft an den Markt eine völlig andere. Trotz sinkender Liquiditäts- und Eigenkapitalreserven würden sich die aufsichtlichen Kennzahlen wie Liquidity Coverage Ratio oder Kernkapitalquote im Mittel kaum ändern. Das als Taschenspielertrick abzutun wäre falsch. Zwar steigt in der Krise im Bankensystem wie in der Gesamtwirtschaft das Risiko unweigerlich an. Stabile Liquidity Coverage Ratio oder Kapitalquoten trotz niedrigerer Liquiditäts- und Kapitalbestände aber würden dem Markt signalisieren, dass relativ zur gesamtwirtschaftlichen Lage ein Institut nach den allgemeinen Regeln über adäquate Liquidität und Kapital verfügt.Drittens wäre ein solcher Mechanismus für den Markt und die Banken vorhersehbarer als die diskretionären Eingriffe der makroprudenziellen Aufsicht oder der Quick Fixes und könnte deshalb in die strategische Kapital- und Liquiditätsplanung der Banken einbezogen werden. Dies wäre ein zusätzlicher Beitrag zur Stabilisierung des Bankensystems. Lehren aus der FinanzkriseDie Lehre aus der Finanzkrise 2008 bestand darin, durch höheren Kapital- und Liquiditätsanforderungen das Bankensystem insgesamt widerstandsfähiger aufzustellen. Corona hat darüber hinaus gezeigt, dass dieses Vorgehen nur dann in der Krise tatsächlich stabilisierend wirkt, wenn Banken in dieser Situation auch die Möglichkeit zum Nutzen ihrer Kapital- und Liquiditätsreserven haben, um die Wirtschaft zu finanzieren.Die Lehre aus der Coronakrise sollte deshalb sein, dass man die Regulatorik konsequent an der Antizipation einer Krisensituation ausrichtet und gleichzeitig einen antizyklischen Krisenmechanismus integriert. Denn erst durch die explizite Einbeziehung der Krise in das Regelwerk entsteht eine Regulatorik, die selbst krisenfest ist. Und das wiederum ist die Voraussetzung für einen krisenfesten Bankensektor. Daniel Sommer, Partner KPMG und Matthias Mayer, Partner KPMG