ESMA ZIEHT BILANZ IN CAUSA WIRECARD

Protokoll der Langsamkeit

EU-Aufsicht wirft BaFin und Prüfstelle Behäbigkeit im Fall Wirecard vor - Die Gescholtenen wehren sich

Protokoll der Langsamkeit

Auf Anraten der EU-Kommission hat Europas Wertpapieraufsicht ESMA die Rolle der BaFin und der Deutschen Prüfstelle für Rechnungslegung im Vorfeld des Wirecard-Kollapses untersucht. Der Bericht geht mit den Institutionen hart ins Gericht, doch ESMA-Chef Steven Maijoor bemüht sich um einen diplomatischen Ton. jsc Frankfurt – Das Zusammenspiel zwischen der BaFin und der Deutschen Prüfstelle für Rechnungslegung, so moniert die European Securities and Markets Authority (ESMA), zog sich im Fall Wirecard hin: Über Jahre hinweg haben die deutsche Finanzaufsicht und die privatrechtlich organisierte Prüfstelle bei der Untersuchung der Zahlenwerke des Skandalunternehmens sich immer wieder auf die jeweils andere Stelle verlassen, ohne dass Bilanzpfusch aufflog, wie die ESMA in dem gestern veröffentlichen Bericht aufzeigt.Die Vorwürfe gegen Wirecard sind demnach regelrecht versandet. 2015 äußerte die “Financial Times” im Blog “Alphaville” Zweifel an der Bilanzierungspraxis des aufstrebenden Zahlungsdienstleisters und stellte wenig später die Bewertung einer Übernahme in Indien in Frage. 2016 folgte ein Bericht mit Anschuldigungen gegen Wirecard aus der Feder des Analysehauses Zatarra, das Korruption, Pfusch, Geldwäsche und illegales Glückspiel thematisierte. Weitere Medienberichte und die Angaben eines Whistleblowers folgten. Doch die Prüfstelle hing erst mit einer Analyse des Geschäftsberichts von Wirecard für 2014 fest, die sie erst Ende 2016 ohne Feststellung von Mängeln beendete. Die BaFin wiederum leitete mit Blick auf den Zatarra-Bericht Untersuchungen zu möglichen Marktmanipulationen ein und informierte die Prüfstelle über die Medienberichte, die diese aber nicht mit dem Bericht für 2014 in Verbindung bringen konnte.Zunehmend begriffen BaFin und Prüfstelle den Ernst der Lage, reagierten aber offenbar nicht schnell genug: Die “Financial Times” berichtete 2019 über fiktive Verträge im Wirecard-Geschäft in Singapur, stellte dann das ausgewiesene Volumen im Geschäft mit Partnerunternehmen in Frage und dokumentierte später künstlich aufgeblähte Umsätze. Die BaFin setzte im Februar des gleichen Jahres ein Leerverkaufsverbot durch und beauftragte die Prüfstelle zugleich mit einer neuen Analyse der Wirecard-Angaben. Doch nachdem das Unternehmen selbst nach erneuten Berichten der “Financial Times” eine Sonderprüfung bei KPMG beauftragte, entschied die Prüfstelle, das Ergebnis der Untersuchung einzubeziehen. Erst im April 2020 erhielt sie das Dokument. So waren BaFin und Prüfstelle den Ereignissen hinterher. Im Juni veranlasste die BaFin Untersuchungen wegen Marktmanipulation gegen Wirecard, doch da stand der Zusammenbruch bereits kurz bevor. All das ist im ESMA-Bericht nachzulesen. ESMA-Chef windet sichEs war der Wirtschaftsprüfer EY, der nach Veröffentlichung des KPMG-Sonderberichts das Testat verweigerte und so den Einsturz des Unternehmens in Gang setzte. Und als Wirecard im Juni einräumte, dass eine ausgewiesene Summe von 1,9 Mrd. Euro fehlt, regte die EU-Kommission wenig später die Untersuchung der ESMA an. Der Skandal war fortan in der politischen Arena, und die EU-Behörde steht nun in der Rolle eines Anklägers. ESMA-Chef Steven Maijoor mühte sich am gestrigen Dienstag in einer Telefonkonferenz daher um den richtigen Ton: Es sei nicht Aufgabe der ESMA, das zweistufige Prüfverfahren in Deutschland zu hinterfragen. Auch habe die BaFin verlässlich mit der ESMA zusammengearbeitet, entgegnete er auf die Frage, welche Konsequenzen er BaFin-Präsident Felix Hufeld nahelege, der seit Monaten unter Druck steht.Die Vorwürfe gegen BaFin und Prüfstelle formuliert die EU-Behörde in Paris, die sonst durch verbale Zurückhaltung auffällt, jedoch auffällig deutlich: Das Zusammenspiel beider Akteure funktioniert demnach nur eingeschränkt, die BaFin habe zu wenige unmittelbare Einblicke in das Geschehen der Prüfer gehabt, die Prüfstelle wiederum habe die konkreten Vorwürfe nicht ausreichend berücksichtigt und professionelle Skepsis vermissen lassen. Die ESMA lehnt sich dabei an Leitlinien an, die sie den EU-Aufsichtsbehörden zum Umgang mit Finanzinformationen an die Hand gibt. Grundsätze wie effektive Untersuchungsprozeduren waren demnach zum Teil lückenhaft, doch sieht die ESMA eine Verbesserung im Zeitablauf. Besonders pikant dürfte der Befund möglicher Interessenkonflikte sein: Denn der Austausch mit dem Bundesministerium für Finanzen, das die Rechts- und Fachaufsicht über die BaFin verantwortet, war angesichts der Bedeutung des Wirecard-Skandals demnach beispiellos. Einen Beleg dafür, dass Berlin dabei auf die Entscheidung der BaFin Einfluss nahm, erkennt die ESMA allerdings nicht. Hinterher immer klügerBaFin und Prüfstelle weisen die Kritik in weiten Teilen zurück: In ihren Stellungnahmen, die dem ESMA-Bericht anhängen, sprechen sie von einem “hindsight bias”, also dem Phänomen, dass die Bewertung im Lichte späterer Erkenntnisse anders ausfällt. Erst Ende 2015 habe das Wirecard-Management nach Erkenntnis der Staatsanwaltschaft die Einführung des Betrugsschemas beschlossen, erklärt die Prüfstelle.Beide Organisationen verweisen zudem auf mangelnde Ressourcen: Als privatrechtliche Organisation sieht sich die Prüfstelle weder ausgestattet noch mandatiert, um Betrugsfälle zu enttarnen. Die BaFin hält es ihrerseits für angemessen, sich auf die Arbeit der Prüfstelle zu verlassen, da sie spürbar weniger personelle und finanzielle Ressourcen für die Durchsetzung habe als die Prüfstelle selbst. Auch verweisen beide Institutionen auf die nahende Reform in Deutschland. Das Bundesfinanzministerium hatte vor wenigen Tagen einen Referentenentwurf für ein Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetz vorgelegt, das etwa auch den Handel mit Finanzinstrumenten durch BaFin-Mitarbeiter einschränken soll. Bundesfinanzminister Olaf Scholz erklärte gestern, die Bundesregierung greife mit ihren geplanten Reformen den Vorstoß der EU-Aufsicht im Wesentlichen auf.