Quo vadis, EU-Kartellrecht?
Dr. Markus RöhrigPartner bei Hengeler MuellerChristoph WilkenSenior Associate bei Hengeler MuellerAm 1. Dezember 2019 soll die neue EU-Kommission, mit der Dänin Margrethe Vestager als Vizepräsidentin und Kommissarin für Wettbewerb und Digitalisierung, ihre Arbeit beginnen. Anlass genug, einen Blick auf aktuelle Entwicklungen im EU Kartellrecht zu werfen. Die künftige Kommissionspräsidentin Ursula von der Leyen hat Margrethe Vestager, die bereits seit 2014 im Amt ist, mit zusätzlichen Verantwortlichkeiten ausgestattet. In ihrer neuen Rolle soll sie nicht nur die Durchsetzung der Wettbewerbsregeln überwachen, sondern auch die digitale Agenda der EU-Kommission vorantreiben. Zuzutrauen ist ihr die neue Mammutaufgabe. Allerdings ist die neue “Doppelzuständigkeit” für Wettbewerb und Digitalisierung auf Kritik gestoßen. Einerseits solle Margrethe Vestager die Wettbewerbsregeln gegen die Tech-Giganten durchsetzen. Anderseits könne nur im kooperativen Austausch mit ebendiesen Unternehmen eine Digitalisierungsstrategie für Europa entstehen. Das beiße sich. Margrethe Vestager betonte in ihrer Anhörung vor dem Europäischen Parlament, dass die Unabhängigkeit der kartellrechtlichen Fallbearbeitung nicht “verhandelbar” sei. Ein etwaiges Konfliktpotenzial bestehe aufgrund unparteilicher und transparenter Entscheidungsstrukturen innerhalb der EU-Kommission nicht. Insbesondere Google, Apple, Amazon & Co. werden dies mit Argusaugen beobachten.Für die zweite Amtszeit von Margrethe Vestager hat Ursula von der Leyen in ihrem “Mission Statement” das Hauptanliegen formuliert, Europa fit für das Digitalzeitalter zu machen. Im Kartellrecht ergeben sich hier vor allem Fragen im Zusammenhang mit der Behandlung neuartiger Geschäftsstrategien wie Plattformen oder Preisalgorithmen. Kurz gefasst: Ist das geltende EU Kartellrecht noch zeitgemäß, um potenziell wettbewerbsschädliche Praktiken in der digitalen Wirtschaft effektiv zu verfolgen? Einige meinen eine gewisse Überforderung des Kartellrechts zu erkennen und sehen den Gesetzgeber aufgerufen, durch spezifische Regulierung tätig zu werden. Andere weisen auf die Risiken einer Überregulierung hin, die wichtige Innovationsanreize von Unternehmen hemmen könnte. Die Digitalwirtschaft möge Behörden und Gerichte mit neuen Themen konfrontieren, etwa beim Zugang zu Daten als Wettbewerbsfaktor. Daraus ein Versagen der bestehenden Instrumentarien des EU-Kartellrechts zu folgern, gehe hingegen zu weit. Margrethe Vestager wird wohl einen vermittelnden Ansatz verfolgen. Im Rahmen ihrer Anhörung vor dem Europäischen Parlament hat sie deutlich gemacht, dass Regulierung aus ihrer Sicht das absolut letzte Mittel sein sollte. Andererseits scheut sie regulatorische Eingriffe nicht, wenn sie sie für erforderlich hält. Denkbar, dass die Bundesregierung die deutsche Präsidentschaft 2020 nutzt, um eigene Impulse im Bereich der Digitalwirtschaft zu setzen. Die von Peter Altmaier beauftragte “Kommission Wettbewerbsrecht 4.0” hat hierzu kürzlich weitgehende Empfehlungen formuliert, etwa für eine spezifische Regulierung von marktmächtigen Plattformen. Nicht alles davon wird in Brüssel auf einhellige Zustimmung stoßen.Große Herausforderungen erwarten Margrethe Vestager auch in anderen Bereichen. Kürzlich etwa hat die EU-Kommission die Ermittlungen gegen die deutschen Autokonzerne verschärft. Der Verdacht lautet, dass BMW, Daimler und VW bei der Entwicklung und Einführung von Technologien zur Verringerung der Schadstoffemissionen von Benzin- und Diesel-Pkw in kartellrechtlich unzulässiger Weise miteinander kooperiert hätten. Der Fall wirft schwierige Abgrenzungsfragen auf: Wo verläuft die Grenze zwischen legitimer Forschungskooperation und unzulässigen Absprachen? Abhilfe könnte eine Reform der Ende 2022 auslaufenden “horizontalen” Gruppenfreistellungsverordnungen schaffen, die bestimmte Kooperationen zwischen Wettbewerbern im Bereich R & D bzw. Spezialisierung legitimieren. Den öffentlichen Konsultationsprozess zur Reform hat die EU-Kommission gerade angestoßen. Margrethe Vestager wird sich auch mit dem immer spürbarer werdenden Rückgang neuer Kronzeugenanträge auseinandersetzen müssen. Hier droht die EU-Kommission Opfer ihres eigenen Erfolgs zu werden. Über Jahre hat sie das Ziel verfolgt, Opfern von Kartellabsprachen die Durchsetzung von Schadenersatzansprüchen zu erleichtern. Die Kehrseite: Unternehmen realisieren das mit Schadenersatzklagen verbundene Risiko und schrecken davor zurück, sich der EU-Kommission zu offenbaren. Hier wird die EU-Kommission über neue Wege nachdenken müssen, um ihr Kronzeugenprogramm nicht zu gefährden, etwa durch einen erweiterten Schutz von Kronzeugen vor Schadenersatzansprüchen. In den letzten Jahren hat die EU Kommission einen stärkeren Fokus auf vertikale Themen gelegt, ein Feld, das sie bislang eher nationalen Behörden – allen voran dem Bundeskartellamt – überlassen hat. Infolge ihrer Sektoruntersuchung im Bereich E Commerce aus dem Jahr 2017 hat die EU-Kommission mehrere Verfahren eingeleitet. Zuletzt hat sie Millionen-Bußgelder etwa gegen Guess (40 Mill. Euro) und Sanrio/Hello Kitty (6,2 Mill. Euro) erlassen, weil die mit Händlern abgeschlossenen Vertriebs- und Lizenzverträge unter anderem den grenzüberschreitenden Verkauf von Produkten an Verbraucher in anderen EU-Mitgliedstaaten beschränkten. Weitere Verfahren wegen des Verdachts vertikaler Verstöße laufen derzeit noch. Es ist zu erwarten, dass auch die “neue” EU Kommission weiterhin einen Schwerpunkt bei der Verfolgung solcher Praktiken setzen wird. Aktuell steht zudem die Reform der sogenannten Vertikal-Gruppenfreistellungsverordnung (“Vertikal-GVO”) sowie der ihr begleitenden “Vertikal-Leitlinien” auf dem Programm der EU-Kommission. Die Vertikal-GVO regelt, unter welchen Voraussetzungen Vertriebsvereinbarungen, z. B. zwischen einem Hersteller und seinen Händlern, vom Kartellverbot freigestellt und somit zulässig sind. Zwar ist noch ungewiss, wie die EU-Kommission die neuen Regeln konkret ausgestalten wird. Man kann aber schon jetzt die Prognose wagen, dass neue Regeln zum Online-Vertrieb das Kernstück der Reform bilden werden. Die EU Kommission wird wohl die neuere Rechtsprechung des EuGH – etwa zu Drittplattformverboten – rezipieren und gegebenenfalls weiterentwickeln. Denkbar ist auch, dass der Online-Vertrieb als “eigene” Regelungsmaterie, für die bestimmte Kernbeschränkungen samt Rückausnahmen definiert werden, Eingang in die Vertikal-GVO selbst findet. Es bleibt aus Sicht der Unternehmen zu hoffen, dass die neue Vertikal-GVO mehr Klarheit zu (vielen) derzeit streitigen Fragen des Kartellvertriebsrechts – insbesondere im Online-Bereich – bringt. Interessant wird schließlich sein, wie sich Margrethe Vestager zu Forderungen nach einer Reform der europäischen Fusionskontrolle positionieren wird. Die Untersagung der Siemens/Alstom-Fusion hat der EU-Kommission scharfe Kritik eingebracht, nicht zuletzt von Peter Altmaier. Der Vorwurf: Die Fusion sei erforderlich gewesen, um die Wettbewerbsfähigkeit der europäischen Unternehmen Siemens und Alstom im globalen Wettbewerb mit dem chinesischen Hersteller CRRC sicherzustellen. Am 4. Juli 2019 haben der deutsche, der französische und der polnische Wirtschaftsminister eine klare Botschaft an Brüssel gesendet. In einem Papier mit dem Titel “Modernising EU Competition Policy” fordern sie mehr Flexibilität in der europäischen Fusionskontrolle, um gemeinsame europäische Interessen zu schützen. Übersetzt heißt das: laxere Regeln für “European Champions”. Es bleibt spannend in Brüssel.