IM INTERVIEW: DIERK MUTSCHLER

"Realismus, statt am Anfang schönrechnen"

Beim Start eines Projekts ist ein klares Anforderungsprofil zu erstellen - Wenn sich zeigt, dass Anforderungen nicht machbar sind, muss das sofort auf den Tisch

"Realismus, statt am Anfang schönrechnen"

Flughäfen, Bahnhöfe oder Konzerthäuser: Die Liste der großen Bau- und Sanierungsprojekte mit Negativschlagzeilen ist lang und prominent. Immer wieder stehen sie aufgrund von Terminverzögerungen oder Kostenexplosionen im Fokus der Öffentlichkeit. Dierk Mutschler erklärt, worauf es bei Großprojekten ankommt und welche Rolle dabei die Digitalisierung spielt.- Herr Mutschler, Ihr Unternehmen begleitet aktuell über 3 500 Bauprojekte und hat eine fast fünf Jahrzehnte lange Erfahrung in der Bau- und Immobilienbranche. Warum kommt es insbesondere bei Großprojekten immer wieder zu Termin- und Kostenüberschreitungen?Im Vergleich zu kleineren Projekten sind bei großen Bauvorhaben – ob von öffentlicher Hand oder der Privatwirtschaft – eine Menge verschiedener Parteien beteiligt. Sie haben sehr komplexe Entscheidungsstrukturen und unterschiedliche Interessenlagen. Das führt oft zu unzähligen Schnittstellen, langwierigen Abstimmungs- und Genehmigungsverfahren und zu intransparenten Kommunikationswegen. Hinzu kommt: Wunsch und Wirklichkeit klaffen vor allem bei den Kosten auseinander, und ganzheitliche Risikobetrachtungen fehlen. Bereits einer der genannten Punkte kann genügen, um ein Projekt ordentlich in Schieflage zu bringen. Kommen mehrere zusammen, potenzieren sie sich oft gegenseitig.- Und was können die Bauherren tun, um das zu vermeiden?Eine der wichtigsten Voraussetzungen beim Start jedes Projekts – und bei Großprojekten besonders – ist, ein klares Anforderungsprofil zu erstellen. Was hat von der Vision, die ein solches Bauvorhaben trägt, Priorität? Das heißt: Bauherren sollten klare und kurze Entscheidungswege definieren, ihre Ziele präzise und realistisch vorgeben, sich an einmal gesetzte Ziele halten und ihre Abläufe professionell und transparent organisieren. Das schafft eine gute Basis für alle weiteren Prozesse und Entscheidungen. Wenn klar ist, dass manche Anforderungen nicht machbar sind oder den Zeit- und Kostenrahmen sprengen, dann muss das von Anfang an auf den Tisch. Salopp formuliert: Realismus, statt am Anfang schönrechnen.- Gibt es denn auch andere Gründe, die sich, unabhängig von Leistungen der Bauherren und Projektbeteiligten, negativ auf die Großprojekte auswirken?Sicher. Schauen Sie sich beispielsweise die Baupreisentwicklung an. Sehr viele Unternehmen melden Rekordumsätze. Damit sind Mittel für Erweiterungen und Neubauten verfügbar. Durch die aktuelle Zinspolitik können Kredite außerdem gerade sehr günstig finanziert werden. Die Nachfrage nach Bauleistungen steigt dadurch weiter, was wiederum die Preise erhöht. Die vollen Auftragsbücher treffen dann auf einen in der Bau- und Immobilienbranche mittlerweile immer gravierenderen Fachkräftemangel. Offene Stellen können nicht mehr besetzt werden. Betriebe sind aktuell also nicht mehr in der Lage, weitere Aufträge anzunehmen. Während Bauherren früher häufig ein Dutzend oder mehr Angebote erhalten haben, ist es mittlerweile keine Seltenheit, wenn es – wenn überhaupt – nur ein bis zwei Angebote gibt. Je komplexer außerdem die Bauleistungen sind, beispielsweise bei der technischen Gebäudeausrüstung, desto höher ist das Preisniveau.- Klingt nach keinem Spielraum, um ein aktuell laufendes Großprojekt im Kostenrahmen zu halten.Zumindest ist er stark eingeschränkt. Wer kann, sollte kurzfristige Auftragsvergaben vermeiden und auf ausreichend Vorlauf zwischen Vergabe und Bauausführung für Gewerke achten. Dabei kommt einem strategischen Procurement eine hohe Bedeutung zu. Je detaillierter die Planung für die Ausschreibung ist, desto höher ist auch die Kostensicherheit. Es kann auch helfen, die Ausschreibung vorab mit den wesentlichen Anforderungen anzukündigen. Die ausführenden Unternehmen und Dienstleister haben sie so zumindest schon auf dem Radar. Und dem Preisanstieg sollte auch eine hohe Prozessqualität und Effizienz während des Baus entgegengesetzt werden.- Wie soll diese Effizienz in der Praxis konkret aussehen?Konkret können Bauherrn die digitale Planungsmethode Building Information Modeling, kurz BIM, anwenden. Es geht darum, vor Baubeginn einen digitalen Zwilling des Bauvorhabens zu entwerfen. Auch die Modularisierung von Bauteilen oder das Anwenden von Lean Construction Management, kurz LCMô«, während der Bauabwicklung führen zu erheblichen Zeit- und Kosteneinsparungen. Beim strategischen Procurement, das wir bei Drees & Sommer für größere Bauprojekte entwickelt haben, verbinden wir frühzeitig unser Marktwissen über Baupreise, Bauabläufe, Firmenkapazitäten oder Angebotsverhalten mit Einkäuferwissen von Profis aus großen Industrieunternehmen.- Sie haben Building Information Modeling angesprochen. Für viele gilt BIM als Allheilmittel bei Großprojekten. Wie sehen Sie das?Tatsächlich findet BIM mit voranschreitender Digitalisierung immer mehr Anwendung in der Baubranche. Und mit Sicherheit ist es eine hervorragende Methode, um frühzeitig im digitalen Modell Planungsfehler zu erkennen, Abläufe zu simulieren, Widersprüche in der Planung aufzudecken und so unerwartete Bau- und Betriebskosten zu vermeiden. BIM ist aber kein Wundermittel. Was analog im Grundsatz scheitert, funktioniert auch nicht digital. Es geht darum, Fachwissen einzusetzen und auf die richtige und sinnvolle Kombination verschiedener analoger und digitaler Methoden und Tools zu achten. Hohe Beträge in neue Hard- und Software zu investieren lohnt sich auch bei Großprojekten. Vorausgesetzt, es steht eine Digitalisierungsstrategie dahinter.- Was meinen Sie mit einer Digitalisierungsstrategie genau?Bei einer Digitalisierungsstrategie geht es darum, wie die zukünftigen Nutzer der neuen Immobilien in ihrem Kerngeschäft digital unterstützt werden können. Das hat enormen Einfluss auf beispielsweise die einzubindende Technik. Wer sich jedoch auf Einzellösungen konzentriert und beispielsweise eine neue Software einsetzt, die bestehenden Prozesse aber nicht richtig anpasst, kann schnell den Anschluss verlieren. Hinzu kommen die unterschiedlichen Bedürfnisse eines Unternehmens. Zum Beispiel braucht ein Hotel mit vielen Zimmern und wechselnden Hotelgästen andere digitale Prozesse und Strukturen als ein Pharmaunternehmen mit einer Reinraum-Produktion. Doch das eine Rezept für Digitalisierung, das alle anwenden können, gibt es nicht. Daher ist eine individuelle Digitalisierungsstrategie unerlässlich. Und sie sollte am besten in einer sehr frühen Phase, das heißt bereits beim Start eines smarten Vorhabens, entwickelt werden.- Und inwiefern ist sie für Großbauvorhaben relevant?Das ist einfach erklärt: Umfangreiche Projekte haben umfangreiche Auswirkungen. Werden bei einem Großbauvorhaben digitale Strukturen und Prozesse nicht von Anfang an eingeplant und richtig ausgebaut, kann das später – wenn überhaupt – nur noch mit hohem Kosten- und Zeitaufwand nachgeholt werden. Daher sollten die Bauherren vor dem Start eines Projekts, aber mit einem Zukunftsblick, die Fragen beantworten: Wie intelligent soll mein Gebäude, Anlage et cetera später werden? Welche digitalen Strukturen will ich darin haben? Es geht also längst nicht nur um das “wie” digitaler geplant und gebaut werden soll. Im Fokus steht vielmehr, “was” das Gebäude nach seiner Fertigstellung – und damit in Zukunft – digital kann.- Angenommen, ein Großprojekt wird mit einer entsprechenden Digitalisierungsstrategie erfolgreich umgesetzt. Was kann dieses Gebäude, und was dürfen die Nutzer erwarten?Das Gebäude der Zukunft ist innovativ, digital vernetzt und intelligent. Es denkt sozusagen mit, lernt immer neu dazu und passt sich somit den Bedürfnissen seiner Nutzer optimal an. Durch ein ausgeklügeltes Zusammenspiel aller Planungs-, Gebäude- und Nutzerdaten und digitaler Technologien ist das Gebäude nicht nur nachhaltig, kostengünstig und effizient, sondern bietet auch Raum für neue Geschäftsmodelle. Flexible IT-Strukturen, die im smarten Gebäude eingesetzt wurden, können problemlos mit der rasanten Entwicklung mithalten. Dass das keine Zukunftsmusik mehr ist, vermitteln bereits heute Vorzeigeprojekte intelligenter Gebäude wie zum Beispiel cube berlin oder The Ship in Köln.- Das heißt, mit einer richtigen Strategie, konsequenter Zielverfolgung und richtiger Expertise können Großprojekte erfolgreich umgesetzt werden?Ja, das sind unter anderem die wichtigsten Voraussetzungen. Unsere Managementerfahrung hat bereits mehrfach gezeigt, dass eine erfolgreiche Realisierung von Großprojekten durchaus möglich ist. Beleg hierfür sind unter anderem Projekte wie der Potsdamer Platz in Berlin oder der Bau des Mercedes-Benz-Museums in Stuttgart.—-Das Interview führte Claudia Weippert-Stemmer.—-Dierk Mutschler, Vorstand der Drees & Sommer SE