Renaissance des unabhängigen Finanzexperten
Im Jahr 2008 haben Finanzexperten mit dem Bilanzrechtsmodernisierungsgesetz Einzug in deutsche Aufsichtsräte gehalten. Mindestens ein Mitglied des Aufsichtsrats bzw. Prüfungsausschusses u.a. in kapitalmarktorientierten Unternehmen muss über Sachverstand in Rechnungslegung oder Abschlussprüfung verfügen. Die Gesetzesbegründung verweist auf die diese Expertise indizierende Wirkung etwa bei steuerberatenden oder wirtschaftsprüfenden Berufen, bei Finanzvorständen, fachkundigen Angestellten aus den Bereichen Rechnungswesen und Controlling, Analysten. Vorschrift formal erfülltBestanden anfänglich noch Interpretationsschwierigkeiten und Unsicherheiten in der Umsetzung dieser Besetzungsvorgabe, zeigen diverse Studien, dass der Finanzexperte heute zumindest formal in nahezu allen Index-Gesellschaften etabliert ist: Etwa 80 % der börsennotierten Gesellschaften weisen ein Aufsichtsratsmitglied mit dieser Qualifikation, in der Regel in der Funktion des Prüfungsausschussvorsitzenden, aus. In knapp 20 % der Dax-30-Gesellschaften sind zwei oder mehr Mitglieder mit Finanzexpertise zu finden.Gleichwohl konnte man in jüngerer Vergangenheit den Eindruck gewinnen, die Bedeutung des Finanzexperten sei in den Hintergrund geraten: Denn der Fokus bei Aufsichtsratsbesetzungen lag auf der Suche nach Digitalisierungs-, Nachhaltigkeits-, HR-, Transformations- und Sektorexpertise, am besten kombiniert mit umfangreicher Managementerfahrung.Um nicht missverstanden zu werden: All diese Kompetenzen sind wichtig; denn sie spiegeln die neuen Herausforderungen und Themen der Aufsichtsratsarbeit wider. Gleichwohl sollte nicht vergessen werden, dass Kompetenzen in den Kernüberwachungsgebieten der Finanzen, Rechnungslegung, Abschlussprüfung, Risikomanagement, interne Kontrollen und Compliance, unverzichtbar sind und sich im Kompetenzprofil eines Aufsichtsrats wiederfinden müssen.In 2020 erleben Finanzexperten nun ihre Renaissance: Zum einen sind sie und ihre Kompetenzen bei der Bewältigung der wirtschaftlichen Folgen der Corona-Pandemie besonders gefordert. Zum anderen steht der Finanzexperte und mit ihm der Prüfungsausschuss aufgrund jüngster Unternehmensskandale im Visier. Deshalb verwundert es nicht, dass der Referentenentwurf eines Finanzmarktintegritätsstärkungsgesetzes (FISG) in seinen wenigen Vorschlägen zur Stärkung der internen Corporate-Governance-Elemente auch den Finanzexperten adressiert.So soll im Aufsichtsrat bzw. Prüfungsausschuss mindestens ein Mitglied über Sachverstand auf dem Gebiet Rechnungslegung und mindestens ein Mitglied über Sachverstand auf dem Gebiet Abschlussprüfung verfügen. Der Sachverstand kann – so die Gesetzesbegründung – durch ein Aufsichtsratsmitglied, welches beide Fachgebiete kumulativ beherrscht, oder durch zwei Mitglieder, die jeweils auf einem der beiden Gebiete über Sachverstand verfügen, sichergestellt werden.Die Formulierung entspricht (ebenso wie die künftige Pflicht, einen Prüfungsausschuss einzurichten) der Maßgabe der Abschlussprüferrichtlinie aus dem Jahre 2006, die voraussetzt, dass mindestens ein Mitglied des Aufsichtsrats über Sachverstand im Bereich Rechnungslegung und/oder Abschlussprüfung verfügen muss. Wer also eine Regulierungsflut für den Aufsichtsrat befürchtet hatte, wird zunächst beruhigt sein. Die minimale Anpassung wird kaum zu grundlegenden Veränderungen in der Aufsichtsratsbesetzung führen. FISG-Entwurf springt zu kurzWer sich hingegen eine klarere Positionierung und auch Stärkung des Finanzexperten erhofft hatte, wird enttäuscht. Denn der FISG-Referentenentwurf adressiert bedauerlicherweise nicht die ebenso unverzichtbare Kompetenz, die zur Würdigung der unternehmerischen Kontrollsysteme, wie Risikomanagement, Compliance, interne Kontrollen und interne Revision, erforderlich ist. Und dies, obgleich die Wirksamkeitsüberwachung seit Jahren zum Aufgabenportfolio des Aufsichtsrats bzw. Prüfungsausschusses gehört und Letzterem im Referentenentwurf sogar ein Auskunftsrecht beim Leiter der internen Kontrolle, des Risikomanagements und der Internen Revision eingeräumt wird.Wer aber soll diese Kompetenz mitbringen, wenn nicht der Finanzexperte? Denn allein für Compliance und Risikomanagement reservieren die wenigsten einen Sitz im Aufsichtsrat. Es wird vom Finanzexperten erwartet, dass er zusätzlich diese besonderen Kenntnisse und Erfahrungen (!) bereithält. So wird es zu Recht vom Kodex für den Prüfungsausschuss-Vorsitzenden schon jetzt empfohlen. Denn jene Kontrollsysteme stehen nicht nur “im Dienst” der Geschäftsleitung, sondern sind unverzichtbar gerade für die Überwachungsaufgabe des Aufsichtsrats.Weiteres “Qualifikationsmerkmal” eines Finanzexperten ist seine Unabhängigkeit und Integrität. Es war schon seinerzeit unverständlich, dass der Gesetzgeber das Unabhängigkeitsmerkmal – auch unter Kritik der Aufsichtsräte – im Rahmen der letzten Abschlussprüfungsreform 2016 gestrichen hat. Sie findet sich derzeit nur im Kodex für den Prüfungsausschuss-Vorsitzenden. Dort wird dessen Unabhängigkeit vom Unternehmen und der Geschäftsleitung einerseits und von den Anteilseignern andererseits empfohlen.Das Fazit: Finanzexperten mit besonderen Kenntnissen und Erfahrungen in Rechnungslegung, Abschlussprüfung und unternehmerischen Kontrollsystemen gehören in jeden Aufsichtsrat; in kapitalmarktorientierten Gesellschaften müssen sie unabhängig sein. Die Bedeutung des Finanzexperten für eine wirksame Unternehmensüberwachung noch deutlicher hervorzuheben, sollte auch Anliegen des Gesetzgebers sein. Daniela Mattheus, Rechtsanwältin, Aufsichtsrätin und Präsidentin der Financial Experts Association (FEA). In dieser Rubrik veröffentlichen wir Kommentare von führenden Vertretern aus der Wirtschafts- und Finanzwelt, aus Politik und Wissenschaft. Von Daniela MattheusEs sollte Anliegen des Gesetzgebers sein, die Bedeutung von Finanzexperten für die Unternehmensüberwachung noch deutlicher hervorzuheben.—