Wirtschaftssanktionen

Russlands Bürger suchen ver­zweifelt nach Aus­wegen

Aus dem Westen kommen die Sanktionen, vom Kreml ein Schlag um den anderen. Für viele Russen ist es kaum möglich, aus ihrer plötzlichen Totalisolation auszubrechen.

Russlands Bürger suchen ver­zweifelt nach Aus­wegen

Von Eduard Steiner, Wien

Wer in der kommunistischen Planwirtschaft oder aber im wirtschaftlichen Desaster der 1990er Jahre groß geworden ist – und das sind doch zwei Drittel der heutigen russischen Bevölkerung –, der hat gelernt zu überleben. Was man nicht kaufen und erwerben konnte, hat man sich auf andere Weise verschafft.

Im Jahr 2022 fühlen sich die Russen wieder an die Zeiten von damals erinnert. Ganz plötzlich ist nichts mehr selbstverständlich vorhanden. Die Menschen sind wieder gezwungen, nach Um- und Schleichwegen zu suchen, um ein erträgliches Leben führen und ein Gefühl von Normalität empfinden zu können.

So etwa im Fall von Kreditkarten. Seit die weltweit größten Anbieter, Mastercard und Visa, ihren Rückzug aus Russland bekannt gegeben haben, wollen große russische Banken wie die Sberbank, Alfabank und Tinkoff vorwiegend auf den chinesischen Bankkartenanbieter Union­pay setzen. Zu diesem Schwenk nach China trug auch bei, dass die russische Zentralbank ihrerseits einheimischen Bankkunden den Gebrauch von Mastercard- und Visa-Kreditkarten im Ausland ab dem 9. März verboten hat.

Umweg über China

Unionpay ist in Russland zwar keinesfalls neu, sondern bei den meisten Bankautomaten und Kreditkartenlesegeräten akzeptiert. Aber solange es eben möglich war, haben die Russen aus traditioneller Skepsis gegenüber China in erster Linie auf die westlichen Branchenführer gesetzt. Im innerrussischen Verkehr dürfen ihre Produkte zwar noch weiterverwendet werden. Wer aber noch ins Ausland reisen und ausländische Dienstleistungen bezahlen möchte, kommt an der chinesischen Karte fortan nicht mehr vorbei.Seit Beginn dieser Woche stehen daher die Menschen stundenlang in Warteschlangen, um sich das chinesische Ersatzprodukt zuzulegen. Aus Mangel an Angebot steigen dafür die Tarife.

Dabei hätten sie durchaus ihr eigenes Zahlungssystem, genannt „Mir“ (zu Deutsch „Friede“ oder „Welt“), das eine Tochter der Zentralbank als Reaktion auf die ersten Sanktionen nach der Krim-Annexion 2014 entwickelt hat. Das Problem: Das System, an das russische Banken angeschlossen sind, funktioniert zwar im In­land. Im Ausland jedoch wird es nur von neun Staaten akzeptiert und selbst dort nicht überall. Und von den neun Staaten, die vor allem in Zentralasien liegen, sind die westlichsten Vertreter Zypern und die Türkei sowie der Flughafen in Dubai.

Die wuchtigen westlichen Sanktionen dürften sich im Laufe der kommenden Monate nicht nur als schwerer Schlag gegen die russische Wirtschaft insgesamt erweisen und den Staat möglicherweise sogar in den Bankrott treiben, wie manche Experten nicht mehr ausschließen. Sie treiben – wie die Gegenmaßnahmen des Staates – die Bevölkerung auch in die Isolation. Oder eben in die Arme Chinas. So bot die inzwischen mit Sanktionen belegte VTB Bank, die zweitgrößte im Land, dieser Tage ihren Kunden an, Konten in der chinesischen Währung Yuan zu eröffnen.

Rubel-Verfall schmerzt

Was die bestehenden Fremdwährungskonten in Dollar oder Euro betrifft, so hat die Zentralbank mit Wirkung vom 9. März verfügt, dass maximal 10000 Dollar in Dollar abgehoben werden dürfen, den Rest gebe es nur noch in Rubel. Auch dürfen Banken und Wechselstuben keine Fremdwährungen mehr verkaufen.

Weil die Zentralbank aufgrund der Sanktionen einen Großteil ihrer Währungsreserven nicht mehr zur Verfügung hat, kann sie auch den Rubel nicht stützen. Dieser rauschte zuletzt mit jedem Tag weiter ab und markierte stets neue Rekordtiefs. An den Banken bilden sich genauso Warteschlangen wie in den Geschäften. Jeglicher Import aus Europa hat sich wegen der Rubel-Abwertung immens verteuert – insbesondere bei Elektrogeräten oder Kleidung. Bei einzelnen Grundnahrungsmitteln hat der Staat Verkaufslimits eingezogen. Noch sind diese etwa bei Zucker mit fünf Kilogramm großzügig. Dennoch gehen Familienmitglieder bereits getrennt einkaufen, um zehn Kilogramm vorrätig zu Hause zu haben.

„Wir können nicht sagen, dass wir jetzt schon schlecht leben“, erklärt ein Russe mittleren Alters, der anonym bleiben möchte, im Gespräch mit der Börsen-Zeitung: „Was beunruhigt, ist die Tendenz.“ Nach so manchen Prognosen zu urteilen, ist sie tatsächlich mehr als beunruhigend. Auf Grundlage einer Umfrage unter Ökonomen prognostiziert die russische Zentralbank nun für 2022 eine Inflation von 20% und einen Rückgang der Wirtschaftleistung um 8% statt eines Wachstums um 2,4%. Das wäre der schlechteste Wert seit dem Rubel-Crash 1998.

Ohnehin wird heute vor allem der Vergleich mit dem 17. August 1998 gern bemüht. Es war der bislang schwärzeste Tag in der postsowjetischen Wirtschaftsgeschichte: Die Binnenschulden wurden damals nicht mehr bedient, die Banken konnten ihre Verpflichtungen nicht mehr erfüllen, der Rubel wurde zur Abwertung freigegeben und verlor binnen weniger Wochen 75% des Wertes.

„Multiplizieren Sie die Krise von 1998 mit drei“, sagte der Oligarch und Aluminiummagnat Oleg Deripaska jüngst auf einem Wirtschaftsforum und machte so deutlich, worauf sich die Menschen einstellen sollten. Russland sei mit so etwas noch nie konfrontiert gewesen. Der Eiserne Vorhang „ist schon gefallen“. „Ich denke, wir werden uns wundern, wie viele Partner uns geblieben sind – an einer Hand werden wir sie abzählen können.“ Russland müsse den Vorhang wieder öffnen.

Lieber Flucht als Wehrdienst

Gerade für die jüngere Bevölkerung, die den Krieg deutlich weniger unterstützt als die ältere Generation, haben sich die Möglichkeiten dafür nun weiter eingeschränkt. Gerade für die wehrfähigen jungen Männer, die Angst haben, trotz Wladimir Putins gegenteiliger Beteuerung in den Krieg geschickt zu werden, und daher panisch nach einem Ausweg aus dem Land suchen, sind die Fluchtkorridore eng. Armenien ist aufgrund der Visafreiheit mit Russland die bevorzugte Destination. Inzwischen auch die Türkei – und über diesen Transit unter anderem Georgien, das keine direkte Flugverbindung mit Russland hat. Diese Länder liegen immerhin nah an Russland, und das Leben dort ist erschwinglich.

Die Preise für Flugtickets dorthin freilich schnellen in die Höhe wie die Flugzeuge selbst. Kostete ein Ticket von Moskau nach Armenien vor einer Woche noch 23000 Rubel, was nach damaligem Umrechnungskurs etwa 200 Euro entsprach, so sind es nun 47000 Rubel, was nur noch etwa 320 Euro ergibt. Für Samstag tauchten auf Ticketplattformen schon mal 409000 Rubel auf, mit Umweg über Dubai mehr als das Doppelte.

Unerwünschte Transfers

Ein Teil der Russen versucht wenigstens sein Geld außer Landes zu schaffen und greift dafür unter Umgehung traditioneller Transaktionsformen vermehrt auch zu Kryptowährungen. Die Nachfrage ist jedenfalls stark gestiegen. Aber auch wenn die Zentralbank dieses Mittel nicht gänzlich verhindern kann, so sind Kryptobörsen von sich aus aktiv, Russen am Transfer zu hindern, schreiben die Analysten von FxPro.

Derweil decken sich in Russland selbst zumindest in der Mittelschicht so gut wie alle mit VPN-Kanälen ein, um die Blockade ausländischer Medien zu umgehen und jenseits des russischen Staatsfernsehens zu einer anderen Information über die Welt und den Krieg zu kommen. Im Kalten Krieg hatte man dafür zum Kurzwellenradio gegriffen – was damals auch verboten war.

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