Solvency-II-Regeln realistisch ausgestalten
Die Finanz- und Schuldenkrise hat Europa fest im Griff. In diesen Zeiten ökonomischer und politischer Unsicherheit bildet die Versicherungswirtschaft einen wichtigen volkswirtschaftlichen Stabilitätsanker. Sie gewährt ihren Kunden langfristige Garantien und sorgt in Zeiten des demografischen Wandels dafür, dass die private und die betriebliche Altersvorsorge als zentrale Elemente des Drei-Säulen-Systems die umlagefinanzierte Rente sinnvoll ergänzen. Ob in der Lebens-, privaten Kranken- oder Schaden- und Unfallversicherung: Über das Versichertenkollektiv werden Risiken aufgefangen, die der Einzelne nicht allein tragen kann.Mit einem Kapitalanlagenbestand von rund 1,3 Bill. Euro gehören die Versicherer zudem zu den bedeutendsten institutionellen Anlegern in Deutschland. Dabei setzt die Assekuranz seit jeher auf eine von Sicherheit und Langfristigkeit geprägte Anlagepolitik und bietet vielen tausend Unternehmen Möglichkeiten der Fremd- und Eigenfinanzierung. Die Assekuranz begleitet auch verstärkt Innovationen im Energie- und Umweltsektor und trägt zur Schaffung zukunftsorientierter Arbeitsplätze bei. Dies ist insbesondere in Krisenzeiten, in Zeiten des Umbruchs im Bankensektor, von erheblichem gesamtwirtschaftlichem Nutzen. Zinstief hinterlässt SpurenDie stabilisierende Wirkung der Versicherungswirtschaft ist jedoch durch die anhaltende Niedrigzinspolitik zur Stützung verschuldeter Krisenstaaten und in Notlage geratener Banken unmittelbar bedroht. Die Rettungsinitiativen für den Bankensektor und die Sicherungsmaßnahmen für den Euroraum ließen Renditen festverzinslicher Wertpapiere in den letzten drei Jahren drastisch fallen. Hiervon sind insbesondere die deutschen Lebensversicherer betroffen. Sie sind traditionell stark in Rentenpapiere investiert, da sie für die Übernahme von Risiken und die Erfüllung der Garantieleistungen gegenüber den Versicherungsnehmern auf regelmäßige und planbare Zinserträge aus sicheren Anlagen angewiesen sind. Große HerausforderungenGleichzeitig stellen unterschiedliche, sich zum Teil widersprechende regulatorische Maßnahmen die Versicherungswirtschaft vor große Herausforderungen. Während Solvency II auf europäischer Ebene die Lebensversicherungsunternehmen anhält, eine sehr langfristige Kapitalanlage zur Deckung der Verbindlichkeiten einzugehen, gibt es andere politische Weichenstellungen in die gegenteilige Richtung. Indem der Gesetzgeber zum Beispiel an der Verpflichtung zur anteiligen Ausschüttung von Bewertungsreserven bei festverzinslichen Anleihen festhält, setzt er Anreize gegen eine entsprechende langfristige Kapitalanlage. Außerdem gefährdet er damit den Risikoausgleich über das Kollektiv.Die Versicherungswirtschaft stellt sich den aktuellen Herausforderungen und zeigt ihre Innovationsfähigkeit auf drei zentralen Handlungsfeldern:Erstens: Anlageseitig diversifizieren die Unternehmen verstärkt über alternative Investitionen. Anlagen in Unternehmensdarlehen, Infrastrukturprojekte und erneuerbare Energien steigen.Zweitens: Produktseitig arbeiten viele Unternehmen daran, die bewährte Praxis der Vergabe langfristiger Garantien in weiterhin zukunftsfähige, sichere und planbare Konzepte zu überführen.Drittens werden diese Maßnahmen flankiert durch eine intensive Auseinandersetzung mit den eigenen Kosten.Insgesamt erbringt die Versicherungswirtschaft trotz der schwierigen Rahmenbedingungen auch weiterhin attraktive Leistungen im Bereich der privaten Altersvorsorge. Einer Studie der Ratingagentur Assekurata zufolge beträgt die Gesamtverzinsung im Marktdurchschnitt 4,65 %. Anlagekriterien wie Sicherheit und Langfristigkeit, kombiniert mit einem professionellen Kapitalanlagemanagement, ermöglichen diese respektablen Überschüsse auch in Krisenzeiten. Es gilt: Versicherer haben attraktive Produkte und bieten auch weiterhin verlässliche Lösungen. Bereits viel getanFür die Stärkung der Risikotragfähigkeit der Unternehmen, die zuallererst dem Schutz der Kunden dient, wurde seitens der Versicherungswirtschaft in den vergangenen Jahren bereits viel getan. So haben die Unternehmen in Vorbereitung auf Solvency II und mit den Erfahrungen aus der Finanzkrise 2002/2003 ihr Risikomanagement ausgebaut und professionalisiert. Mit dem MaRisk-Rundschreiben der BaFin wurden 2009 Regeln des europäischen Versicherungsaufsichtsprojektes Solvency II vorzeitig umgesetzt. Auch dies hat dazu beigetragen, dass die Versicherer bislang die Folgen der aktuellen Finanzkrise für ihre Kunden zu einem großen Teil abfedern konnten.Jedoch hat sich das Marktumfeld zusehends verschlechtert. Marktkräfte wurden im Zuge der Schuldenkrise ausgehebelt, und ein Ende der künstlichen Niedrigzinsphase ist nicht in Sicht. Trotz dieser veränderten Bedingungen möchte die Versicherungswirtschaft ihre wichtige gesellschaftspolitische Rolle auch weiterhin zuverlässig erfüllen. Dafür müssen die regulatorischen Rahmenbedingungen stimmen. Die Zeichen der Zeit verlangen somit auch seitens der Politik Lern- und Handlungsbereitschaft. Aus einer anderen ZeitZeitnah ist insbesondere die Weichenstellung beim Solvency-II-Projekt zentral. Hierbei müssen sich die beteiligten Verhandlungsparteien darüber im Klaren sein, dass das zugrunde liegende Konzept aus einer Zeit anderer Rahmenbedingungen stammt. Aus einer Zeit ohne Finanz- und Schuldenkrise. Aus einer Zeit höherer Leitzinsen und attraktiver Kapitalmärkte. Das veränderte Umfeld offenbart zunehmend, dass die seinerzeit geplanten Solvency-II-Regeln langlaufende Verbindlichkeiten heute nicht mehr adäquat abbilden können. Gerade die Methodik zur Bewertung langfristiger Garantien in der Lebensversicherung stellt einen Streitpunkt dar, der die sogenannten “Omnibus-II-Verhandlungen” in Brüssel stocken lässt. Die Notwendigkeit einer sachgerechten regulatorischen Lösung liegt auf der Hand, denn es geht um mehr als nur um technische Details: Die Ausgestaltung der strittigen Regeln entscheidet darüber, in welcher Form zukünftig in der Lebensversicherung langfristige Garantien angeboten werden können.Auch die Schaden- und Unfallversicherung ist auf eine realistische Ausgestaltung der Solvency-II-Regeln angewiesen. Häufigkeit und Umfang von Katastrophenereignissen steigen. Naturkatastrophen haben zusehends eine signifikante wirtschaftliche Bedeutung. Bedrohen neue Aufsichtsregeln die Versicherbarkeit solcher Risiken, laufen sie ihren fundamentalen Zielen zuwider. Die Kunden dürfen keinen Schaden nehmen durch ein Projekt, welches die Aufgabe hat, sie besser zu schützen. Unter Solvency II muss daher eine risikogerechte Modellierung möglich sein, welche die umfassende Schadenerfahrung der Versicherer nicht ignoriert, sondern adäquat widerspiegelt. Nicht übermäßig belastenVor allem kleine und mittlere Versicherer dürfen im Ergebnis nicht übermäßig belastet werden. Die überbordenden Berichtspflichten unter Solvency II mit ihren ambitionierten Fristen und Frequenzen müssen noch einmal generell überdacht werden. Dies gilt vor allem, wenn Bundesbank und Europäische Zentralbank zusätzliche Berichtspflichten schaffen. Eine durch regulatorische Maßnahmen erzwungene Marktbereinigung ist unbedingt zu verhindern.Spartenübergreifend muss daher bei den weiteren Verhandlungen um Solvency II trotz des Handlungsdrucks gelten: Qualität vor Zeit! Das ist auch bei den auf europäischer und nationaler Ebene stattfindenden Diskussionen um das Vorziehen bestimmter Solvency-II-Anforderungen zentral. Aspekte, die Gegenstand des Omnibus-II-Trilogs sind, müssen von den Vorziehungsdiskussionen ausgenommen bleiben. Dies gilt insbesondere für Anforderungen zur Ermittlung der regulatorischen Kapitalanforderung. Solvabilität I muss übergangsweise die Grundlage aufsichtsrechtlicher Maßnahmen bleiben. Unerwünschte NebeneffekteDie angesprochenen Handlungsfelder verbindet ein Ziel: der Schutz der Versicherungsnehmer. Gerade deshalb darf nicht aus politischen Gründen über unerwünschte Nebeneffekte und Mängel der Regulierung hinweggesehen werden. Auf europäischer und nationaler Ebene sind Handlungs- sowie Verhandlungswillen und Fingerspitzengefühl bei den anstehenden Entscheidungen gefragt. Probleme, die ihren gemeinsamen Nenner im Niedrigzinsumfeld haben, können allerdings nur bedingt durch eine adäquate Ausgestaltung regulatorischer Anforderungen bewältigt werden. Je länger die Niedrigzinsphase anhält, desto schwieriger wird es für die Versicherungswirtschaft, ihre Folgen abzufedern. Politik, Wirtschaft und Gesellschaft müssen sich auch diesem Problem stellen.