Stahlindustrie steht unter massivem Innovationsdruck

Gleichzeitiges Auftreten fundamentaler Entwicklungen mit globaler Spannweite und hoher Dynamik - Wertstoffmanagement wird strategisch

Stahlindustrie steht unter massivem Innovationsdruck

Stahl spielt nach wie vor weltweit die zentrale Rolle in der industriellen Fertigung. Doch die Anforderungen an die Stahlhersteller ändern sich – ebenso wie die Struktur der Stahlindustrie. Welche Entwicklungen werden die Branche prägen? Auf welche Herausforderungen müssen die Stahlhersteller und ihre Kunden in den nächsten Jahren Antworten finden? Welche Rolle werden die Stahlhersteller bei den Innovationsprojekten des 21. Jahrhunderts, der Energiewende, der automobilen Revolution und dem Klimaschutz spielen? Einflussfaktor MegatrendsIn einer Szenariostudie haben wir versucht, die wichtigsten Trends in der Stahlindustrie zu beleuchten und eine Projektion für das Jahr 2020 zu entwickeln. Die Komplexität einer solchen Prognose lag insbesondere darin, dass die Stahlbranche wie kaum eine andere Industrie von den globalen Megatrends beeinflusst wird: geopolitische Prozesse, zunehmende Rohstoffknappheit, die Umverteilung der Gewichte in der Weltwirtschaft, Klimawandel, demografische Veränderungen und Technologiewechsel sind nur einige Beispiele dafür. Mit einem szenariobasierten Untersuchungsansatz war es insbesondere auch möglich, Extremereignisse, mit denen wir immer häufiger konfrontiert sind, zu antizipieren und in die Untersuchung mit einzubeziehen. Dabei wurden insbesondere die zunehmende Unsicherheit, der Aufbau nachhaltigen Wertstoffmanagements und die Verkürzung von Innovationszyklen von den befragten Experten als Kernherausforderungen identifiziert.Eine zentrale zukünftige Aufgabe für die Stahlindustrie ist die Definition optimaler und kostengünstiger Prozesse und Lösungskonzepte für aufwendige Stahlprodukte. Die Stahlindustrie steht künftig unter einem enormen Innovationsdruck. Im Bau- und Infrastruktursektor, in der Energiewirtschaft, vor allem aber in der Automobilindustrie steigt sowohl der Bedarf nach Hochleistungsstahl und funktionalen Oberflächen als auch nach flexiblen nachgelagerten Prozessen. Die Stahlindustrie muss auf die neuen Bedarfe reagieren, indem sie neue Stahlsorten, Oberflächentechnologien oder Umform- und Fügeverfahren entwickelt und einen Beitrag zur Umsetzung integrierter Recyclingkonzepte leistet. Auch im Baugewerbe wird der Innovationsdruck zunehmen – hier spielt neben Umweltschutzaspekten beispielsweise der Trend zur vermehrten Substitution von Holz und Stein durch Stahl eine wichtige Rolle. Hier muss die Stahlindustrie neue Technologien entwickeln, die die Herstellung leichterer und kostengünstiger Sorten erlauben. Neben dem kundeninduzierten Innovationsdruck verlangen vor allem die nationalen und internationalen Rechtsnormen und die Fokussierung auf die Reduktion des CO2 -Ausstoßes eine laufende Weiterentwicklung der Materialien und Verfahren.Wie stark wird der Innovationsdruck im Jahr 2020 die Stahlindustrie prägen? Die Experten weisen der Verkürzung der Innovationszyklen und dem steigenden Innovationsdruck einheitlich eine sehr hohe Eintrittswahrscheinlichkeit zu. Dabei beurteilen sie die Entwicklung als positiv für die Branche. Zusammen mit dem hohen Einfluss, den ein fortgesetzter Innovationsdruck und die Verkürzung der Innovationszyklen auf die Branche haben werden, handelt es sich hier um einen der wesentlichen Trends der nächsten Jahre. Normalzustand: UnsicherheitDie zunehmende Volatilität der Rohstoffpreise macht die Kostenkalkulation der Stahlabnehmer zu einem zentralen Problem, das durch sich häufig ändernde nationale Exportsteuern und Restriktionen verschärft wird. In vielen Ländern sind die Exportsteuern auf einem extrem hohen Niveau, so dass bereits Nachrichten über die Veränderungen von Restriktionen die Preise schwanken lassen. Die Unsicherheit wird verstärkt durch eine Vielzahl unterschiedlicher Akteure in der Stahlbranche, die Intensivierung des internationalen Wettbewerbs und unübersichtliche globale Handelsverflechtungen. Auch die Unklarheit über die politische und ökonomische Entwicklung in Japan, Europa, Nordafrika, den USA und China drückt auf den Markt. Die Folge ist eine deutliche Verkürzung der Laufzeit von Lieferverträgen und damit eine schnellere Veränderung der Preise. Das kurzfristige Preissystem führt zu einer Belastung der Stahlkonjunktur.Steigende Rohstoffkosten, schwer abschätzbare geopolitische Entwicklungen und volatile Verfügbarkeit erhöhen die Unsicherheit in der Stahlindustrie. Die Zunahme der Unsicherheit ist der wichtigste Trend der nächsten Jahre, der auch durch strukturelle Maßnahmen auf Unternehmens- und Staatsebene nicht wesentlich gemildert werden kann. Es ist deshalb folgerichtig, dass die Trendauswirkungen als stark negativ für die Industrie betrachtet werden.Unsichere Versorgungslage einerseits und Umweltschutzgesichtspunkte andererseits treiben eine Verschärfung gesetzlicher Vorschriften zur Wiederverwertung. So ist beispielsweise die Verordnung über Kriterien für das Ende der Abfalleigenschaft von Eisen-, Stahl- und Aluminiumschrott im November 2011 in Kraft getreten. Auch die EU-Kommission betrachtet verstärktes Recycling und bessere Nutzung von Rohstoffen als wichtigen Pfeiler der Rohstoffstrategie. Gleichzeitig sorgen auch verstärkte Rohstoffeffizienz und hohe Schrottpreise für wachsende Wiederverwertungsquoten. Da Stahl de facto zu 100 % wiederverwertbar ist und in Deutschland die Recyclingrate für Rohstahl lediglich ca. 45 % beträgt, bestehen noch immense Potenziale. Zudem wird die Wiederverwertung kontinuierlich teurer, sowohl durch die steigenden Preise für Schrott als auch durch eine stetige Verschärfung der Umweltauflagen. Experten rechnen mit einer Fortschreibung dieser Entwicklung mit knapp 78 % die höchste Wahrscheinlichkeit aller untersuchten Trends zu und sehen auch massive Auswirkungen auf die Branche zukommen. Nachwuchs sichernDie Zahl der Beschäftigten in der Stahlindustrie in Europa ist seit 1950 kontinuierlich gesunken, im Jahr 2011 waren in Deutschland nur noch rund 92 000 Menschen in der Branche beschäftigt. Gleichzeitig erhöhen aber die verkürzten Innovationszyklen und der hohe Innovationsdruck den Bedarf an hoch qualifizierten Mitarbeitern, um die die Stahlindustrie mit relativ geringem Erfolg mit anderen Branchen konkurriert.Diese Situation wird sich sowohl durch den demografischen Wandel und die weiterhin steigenden Technologieanforderungen als auch durch die begrenzte Attraktivität der Industrie unter Ingenieuren weiter verschärfen. Die im Rahmen der Studie befragten Experten sehen diesen Trend als stark negativ und schwerwiegend für die Branche an. Gleichzeitig wird die Wahrscheinlichkeit, dass die Entwicklung bereits in diesem Jahrzehnt signifikant wird, als am niedrigsten von allen untersuchten Trends eingestuft. Diese Einschätzung birgt indes die Gefahr, die selbstverstärkenden Dynamiken komplexer soziodemografischer Prozesse zu unterschätzen – und die relativ enge Zeitspanne zu verpassen, in der die richtigen Weichenstellungen vorgenommen werden können, um auch langfristig im Kampf um Talente eine starke Position zu haben.Die untersuchten Trends stellen für sich genommen bedeutende strategische Herausforderungen für die Stahlindustrie dar – doch damit umzugehen hat sie in ihrer langen Geschichte gelernt. Neu sind die Gleichzeitigkeit fundamentaler Entwicklungen, ihre globale Spannweite und ihre hohe Dynamik. Darauf muss die Branche Antworten finden und die vielen Chancen, die ihr die Welt im Jahr 2020 bieten wird, ergreifen. Denn eines können wir schon heute mit Sicherheit sagen: Auch die Zukunft bleibt – vorerst – aus Stahl gemacht.—Sven T. Marlinghaus, Partner und Head of Supply Chain Management & Procurement Germany bei KPMG und Lars Immerthal, Director bei KPMG