Andreas Berger

Swiss Re steuert nach Milliarden-Debakel um

Die US-Strategie des Industrieversicherers der Swiss Re war zu aggressiv – Spartenchef Andreas Berger zeigt sich optimistisch, dass die Verlustphase überwunden ist. Die Herausforderung ist noch immer groß.

Swiss Re steuert nach Milliarden-Debakel um

Von Daniel Zulauf, Zürich

Die Swiss Re ist nicht bekannt dafür, ihre Manager bei der Konkurrenz abzuwerben. Doch im Fall von An­dreas Berger war eine Ausnahme unvermeidlich. Vor knapp drei Jahren benötigte der Schweizer Rückversicherer dringend einen erfahrenen Spezialisten für das Industrieversicherungsgeschäft. Unter dem Eindruck einer desaströsen Geschäftsentwicklung ließ der Führungswechsel keinen Aufschub mehr zu.

Den ersten Teil seiner Aufgabe hat der frühere Allianz- und Gerling-Manager inzwischen gelöst: „Wir sind durch den Turnaround durch“, sagt er im Gespräch mit der Börsen-Zeitung. „Corporate Solutions“ oder kurz „Corso“, wie die Direktversicherungssparte beim Schweizer Rückversicherer heißt, hat in den ersten sechs Monaten des laufenden Jahres 262 Mill. Dollar verdient und weniger als 93% der Beitragseinnahmen zur Deckung von Schäden und Kosten aufgewendet. So gut hatte der Geschäftsbereich zuletzt vor sechs Jahren dagestanden.

In den Jahren dazwischen häuften sich Verluste von kumuliert mehr als 2 Mrd. Dollar – eine horrende Zahl, wenn man bedenkt, dass das zugrundeliegende Beitragsvolumen weniger als 5 Mrd. Dollar pro Jahr beträgt.

Zu offensiv unterwegs

Bergers Ursachenanalyse ist klar: In der ersten Phase nach der Gründung von „Corso“ im Jahr 2012 habe sich das Industrieversicherungsgeschäft auf einem „steilen Wachstumspfad“ befunden – vor allem in den USA. Weltweit wurden in kurzer Zeit dutzende Büros eröffnet. Hunderte von neuen Mitarbeitenden wurden eingestellt, um den Wachstumsambitionen gerecht zu werden. „Corso“ präsentierte sich im Markt als Vollsortimenter mit dem Verkaufsargument der starken Swiss-Re-Bilanz im Schaufenster. So seien im großen Stil auch Haftpflichtrisiken in den USA gezeichnet worden.

 Es kam zu einer Überexponierung. 90% der globalen Haftpflichtrisiken stammten aus dem US-Geschäft, und dies zu einem Zeitpunkt, als die Raten bereits in einen Sinkflug übergingen. „In der hochkompetitiven Industrieversicherung, in der auch die Broker eine starke Position besitzen, können die Raten sehr schnell nach unten gehen. Wir sind in einem fallenden Markt gewachsen“, erklärt Berger. Mit einer Zeitverzögerung treten dann die Schäden ein, was zu einer Diskrepanz führt.

Dieses Problem wurde systematisch adressiert, und Berger hat die Konklusionen aus der milliardenteuren Swiss-Re-Lektion längst gezogen: Versicherer sind schlecht beraten, ihre Bilanzkapazität im großen Stil zur Akquisition von Geschäft einzusetzen, wenn kaum Differenzierung des Angebotes möglich ist.

Die etwas laienhaftere Erklärung dafür lautet: In Zeiten, in denen die Versicherer mehr Kapital beziehungsweise Kapazität halten, als die nach Risikodeckungen suchenden Kunden nachfragen, fallen die Preise – und vice versa. Dieses Auf und Ab ist schwierig zu managen und ab einer bestimmten Amplitude bei den Investoren höchst unbeliebt. Einen gewissen Schutz erreichen Versicherer durch Kundennähe. Wenn die Assekuranz kraft ihrer Expertise etwa in der Risikovorsorge gut beraten kann, erhält sie in der Regel mehr Rate für das eingegangene Risiko.

„Corso“ schöpft wieder Kraft

Genau auf diesem Weg will Berger mit seiner „Corso“ nun rasch vorankommen. Das Universum des globalen Industrieversicherungsgeschäfts bestehe aus rund 40000 großen und mittelgroßen Unternehmen. Von diesen habe die Swiss Re mit 12000 ein Vertragsverhältnis, aber nur indirekt als Kapazitätsgeber via Broker. Interessant sind für Berger die direkten Kundenbeziehungen. 140 solche Accounts, wo der Wert der gesamten Swiss Re mit allen Differenzierungsmöglichkeiten für den Kunden zum Tragen komme, habe Corso bislang gewonnen. Sie tragen immerhin schon 30% zum gesamten Beitragsvolumen der Sparte bei, sagt Berger. Sein Ziel ist es, die Zahl der gemanagten Accounts auf 300 zu verdoppeln. 

 „Wir befinden uns jetzt in der angenehmen Situation, von Grund auf überlegen zu können, wo wir wachsen wollen“, erklärt Berger das weitere Vorgehen. „Das US-Haftpflichtgeschäft haben wir nicht fortgeführt und die verbliebene Expo­su­re durch Rückversicherungsverträge abgegeben.“ Für die Zukunft des US-Haftpflichtgeschäft im Großin­dus­triellenbereich bleibt der Ma­na­ger skeptisch. „Wenn wir Risiken nicht verstehen und modellieren können, dann exponieren wir uns nicht.“

An sich sind die Risiken des amerikanischen­ Haftpflichtgeschäfts schon lange bekannt. Als Gründe für die im internationalen Vergleich weit überdurchschnittlich hohen Schadenersatzzahlungen gilt unter anderen das Prozessfinanzierungssystem, das umfangreiche Sammelklagen mit üppiger Erfolgsbeteiligung der Klägeranwälte begünstigt. Auch die Urteile der Geschworenengerichte, die scheinbar häufiger zugunsten der Konsumenten oder Beschäftigten ausfallen, sind eine oft genannte Ursache für das Phänomen, das die Versicherungswirtschaft als „soziale Inflation“ bezeichnet.

Die Entwicklung habe sich in den vergangenen Jahren deutlich verstärkt, sagt Berger. Die Statistik scheint ihm Recht zu geben: 2020 erreichte die Gesamtsumme der Vergleichszahlungen aus 77 amerikanischen Sammelklagen eine Höhe von 4,2 Mrd. Dollar. Im Jahr davor wurden 74 Vergleiche über lediglich 2,1 Mrd. Dollar abgeschlossen. Als Folge schießen die Raten im US-Haftpflichtgeschäft derzeit im mittleren bis hohen zweistelligen Prozentbereich nach oben. „Ich bin mir aber noch nicht sicher, dass diese gestiegenen Preise den wachsenden Risiken gerecht werden“, sagt Berger.

Die Zeichnungsdisziplin im Versicherungsgeschäft kann rasch verloren gehen, wenn der Markt in den Wachstumsmodus zurückkehrt. So verlief der Zyklus auch vor 20 Jahren nach dem Terroranschlag auf das World Trade Center. Die strikte Zeichnungsdisziplin, auf die sich die Assekuranz unmittelbar nach dem Schock eingeschworen hatte, nahm mit zunehmendem Wettbewerb bald wieder ab und führte nicht nur zu einem stärkeren Druck auf die Preise, sondern auch auf die Bedingungen in den Versicherungsverträgen. Sie wurden teilweise weiter gefasst und in vielfacher Weise angepasst. Ein Ergebnis dieses Wildwuchses ist der Streit über Schadenersatz für pandemiebedingte Betriebsunterbrechungen, wie sie derzeit vor allem Gastrobetriebe und Versicherungen in den Gerichten vieler Länder ausfechten.

„Die Pandemie hat dazu geführt, dass wir in der Branche jetzt wieder viel klarer über den Inhalt von Policen reden und darüber, was im Schadenfall gedeckt ist“, sagt Berger. „Es ist klar, dass die meisten Betriebsunterbrechungsversicherungen nie dazu gedacht waren, Pandemien abzudecken.“ Zwar war das Pandemierisiko bekannt, aber dass Regierungen weltweit große Teile der Wirtschaft herunterfahren, war so nicht vorauszusehen.

Mit oder ohne Vater Staat

Vorsicht ist zwar wichtig, aber nicht die einzige Tugend im Geschäft. Auf neue Großgefahren wie Cyberrisiken reagiert die Assekuranz derzeit mit starker Rücknahme der Deckungen. Das sei angesichts der jüngsten Entwicklungen etwa bei den gehäuften Ransomware-Attacken im Sommer eine verständliche Entwicklung, findet Berger.  Eine dauerhafte Verknappung der Cyberdeckungen jedoch könnte staatliches Engagement im Versicherungsmarkt nötig machen, was dem Image der Branche kaum förderlich wäre. 

In der Schweiz kam es 2018 zu einer parlamentarischen Eingabe, welche die Prüfung zur Einführung einer staatlichen Limite anregte. Die Schweizer Regierung bezeichnete das Anliegen als „verfrüht“. Eine staatliche Deckung von Cyberrisiken sei erst dann eine nähere Prüfung wert, wenn abgeschätzt werden könne, welches Potenzial die marktwirtschaftlichen Lösungen hätten. Eine staatliche Risikoübernahme stünde auch ordnungspolitisch im Widerspruch zum Ziel, die Eigenverantwortung der Finanzinstitute zu stärken. Ebendieses Ziel muss auch Berger konsequent weiterverfolgen. 

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