GASTBEITRAG

Systemkrisenbewältigung durch Bankenabwicklung?

Börsen-Zeitung, 12.7.2016 Italien ist in diesen Tagen in aller Munde. Verantwortlich dafür ist nicht die bevorstehende Urlaubssaison, sondern die Systemkrise des italienischen Bankensektors, die - mit gewichtigen Gründen - auch jenseits der Grenzen...

Systemkrisenbewältigung durch Bankenabwicklung?

Italien ist in diesen Tagen in aller Munde. Verantwortlich dafür ist nicht die bevorstehende Urlaubssaison, sondern die Systemkrise des italienischen Bankensektors, die – mit gewichtigen Gründen – auch jenseits der Grenzen des Landes Anlass zu erheblichen Sorgen gibt. Für Politik und Öffentlichkeit in Deutschland scheint der Fall klar: Folgt man den Stellungnahmen der Bundesregierung und der Mehrheitsmeinung in den Medien, führt an der Anwendung des neuen, 2014 mit der EU-Bankenabwicklungsrichtlinie (“Bank Recovery and Resolution Directive”, BRRD) harmonisierten Bankeninsolvenzrechts kein Weg vorbei. Ein “Bail-in” scheint das Gebot der Stunde: die Kürzung der Anteile der Gesellschafter der Bank und die Einbeziehung von Bankgläubigern in die Verlusttragung. Gerade Deutschland hält damit den ordoliberalen Grundsatz von der Einheit von Risiko und Haftung pointiert hoch – nach dem eigenen drastischen Sündenfall und den fiskalischen Auswirkungen der staatlichen Rettungsaktionen in Fällen wie Hypo Real Estate oder Commerzbank. Böse Zungen könnten es so formulieren: Man verweigert den anderen die Party, die man selbst schon genossen hat. Oder: Man spielt sich als Ordnungshüter auf, nachdem man selbst zuvor das erbittert bekämpfte Vergehen begangen hat. Tatsächlich steht die deutsche Position in deutlichem Kontrast zu pragmatischeren Stimmen aus dem Ausland und der EZB, die eine staatlich finanzierte Stützungsaktion für die notleidenden italienischen Banken ausdrücklich befürworten, und zur Position der italienischen Regierung, die sich für die Zulassung von Staatsbeihilfen nach Maßgabe des EU-Beihilfenregimes engagiert. Zweifel drängen sich aufDieser nicht zu übersehende wirtschaftspolitische Grundsatzdisput führt zu der Frage, ob die der deutschen Position zugrunde liegenden Prämissen zutreffen: Kann das reformierte Bankeninsolvenzrecht der BRRD in einer Situation wirksam Abhilfe leisten, die sich sicherlich durch zahlreiche Fälle von Missmanagement, durch “Overbanking”, also durch ineffiziente Überversorgung mit Banken, aber eben auch durch eine abnorm große, rezessionsbedingte Belastung des Bankwesens mit Problemkrediten auszeichnet? Oder wäre die Anwendung des neuen Bankeninsolvenzrechts, das die Gläubiger – oberhalb der durch die Einlagensicherung geschützten Summe von 100 000 Euro für Einlagen – zu mindestens 8 % an den aufgetretenen Verlusten beteiligt, tatsächlich mit Auswirkungen verbunden, die in der aktuellen Krisensituation nicht sinnvoll riskiert werden sollten? Damit sind Grundsatzprobleme angesprochen, deren Bedeutung sich keineswegs auf die gegenwärtige Problemlage in Italien beschränkt: Sollte sich herausstellen, dass das neue Bankeninsolvenzrecht in der Anwendung darauf mit strukturell bedingten Problemen verbunden ist, ließe das möglicherweise Rückschlüsse auf seine generelle Tauglichkeit für die Bewältigung systemweiter Krisen zu. Um das Ergebnis vorwegzunehmen: Dem, der sich eingehender – und auch schon vor der globalen Finanzkrise – mit Fragen der Bankeninsolvenz befasst hat, werden sich Zweifel in dieser Hinsicht geradezu aufdrängen.Geht man von Sinn und Zweck der BRRD aus, ist die deutsche Position indessen prima facie absolut plausibel. In der Tat ist es ja erklärtes Ziel der Richtlinie, die Rettung insolvenzreifer Banken künftig zu vermeiden – schon im Interesse der Schonung der öffentlichen Haushalte, die ja durch Staatsbeihilfen für insolvenzreife Institute nach der Lehman-Brothers-Insolvenz 2008 in vielen Rechtsordnungen erheblich belastet worden waren. Statt dessen soll eine Abwicklung herbeigeführt werden, die im wirtschaftlichen Ergebnis die Wirkungen traditioneller Unternehmensinsolvenzverfahren für Anteilseigner, Geschäftsleiter und Gläubiger möglichst weitgehend simuliert, um auf allen Seiten die Anreize für eine exzessive Risikobereitschaft zu verringern. Zugleich sollen jedoch die mit tradierten Formen von Insolvenzverfahren verbundenen Ansteckungsrisiken einer Bankeninsolvenz für andere Banken, für professionelle Investoren und für die Gesamtwirtschaft vermieden werden. Daher sind diejenigen Gläubiger, die mit der insolvenzreifen Bank in einer als systemisch wichtig eingestuften Austauschbeziehung stehen, in der Anwendung der neuen Instrumente weitgehend geschützt. Sie können damit rechnen, dass ihre Forderungen die Insolvenz unbeschadet überleben. Im Übrigen aber sind Gläubigerverluste nichts, was mit dem neuen Insolvenzrecht konzeptionell unvereinbar wäre – im Gegenteil: Wenn die Verluste das Eigenkapital aufgezehrt haben, ist die Beteiligung von Gläubigern an den Verlusten ausdrücklich vorgesehen.Insgesamt sollen so die Handlungsmöglichkeiten staatlicher Stellen für künftige Bankenkrisen in einer mit marktwirtschaftlichen Grundsätzen vereinbaren Weise gestärkt und soll vermieden werden, dass sich die Mitgliedstaaten bei künftigen Insolvenzen großer, international aktiver, mit einem Wort: “systemrelevanter” Institute nochmals zu Rettungsmaßnahmen als letztem Ausweg gezwungen sehen. Entsprechendes gilt für den institutionellen Rahmen für die Bankenabwicklung in der Europäischen Bankenunion, in der bekanntlich der sogenannte Einheitliche Abwicklungsausschuss (Single Resolution Board, SRB) als Herzstück des Einheitlichen Abwicklungsmechanismus zu Beginn dieses Jahres die zentralisierte Entscheidungsbefugnis für die Einleitung von Abwicklungsmaßnahmen übernommen hat. Seine Handlungsmöglichkeiten sind dabei denen der nationalen Abwicklungsbehörden nach der BRRD nachgebildet worden.Führt man sich dieses Zielprogramm vor Augen, dann drängt sich die Frage, warum auf die jüngsten Problemfälle – wie in Italien – nicht mit der Anwendung des neuen Rechts reagiert werden soll, in der Tat geradezu auf. Auf den ersten Blick scheinen die vor allem im europäischen Norden gehegten Hoffnungen durchaus einleuchtend, mit dem neuen Recht ließen sich die Strukturprobleme der Bankensysteme autonom durch die betroffenen Mitgliedstaaten und insbesondere ohne Kosten für den Rest der Union bereinigen. Und auch was die “Abwicklungsinstrumente”, das heißt die neuartigen Handlungsmöglichkeiten für die Abwicklungsbehörden der Mitgliedstaaten nach der BRRD, anbelangt, ergeben sich keine Anhaltspunkte, die Zweifel an der Tauglichkeit des Instrumentariums auch im speziell gelagerten Kontext der gegenwärtigen Krise aufkommen ließen. Im Gegenteil: Schon die Voraussetzungen, die erfüllt sein müssen, damit es zu einer “Abwicklung” nach der BRRD kommen kann, sind explizit auf Banken zugeschnitten, deren Insolvenz systemische Ansteckungsgefahren birgt und die daher einer besonderen Behandlung bedürfen. Mit einem flexibel einsetzbaren Instrumentarium, das den Behörden große Gestaltungsspielräume eröffnet, scheint das neue Recht auf sektorweite Strukturprobleme an sich geradezu zugeschnitten. Das Vertrauen, das vor allem im europäischen Norden darauf gesetzt wird, scheint also auf sicherem Fundament gegründet. Komplexer Bail-inUntersucht man die einzelnen “Abwicklungsinstrumente” näher, kommt jedoch rasch Skepsis auf. Dies gilt auch und gerade für das sogenannte Bail-in-Instrument, das vor allem im europäischen Norden als Mittel der Wahl für die Lösung der italienischen Probleme propagiert wird. Unter den verschiedenen Handlungsoptionen, die die Richtlinie zur Verfügung stellt, ist es das komplexeste. Im Kern geht es um die Kombination eines Kapitalschnitts – der Herabsetzung von Kapitalanteilen, um entstandene Verluste auf die Inhaber von Eigen- und Fremdkapitalpositionen zu verteilen – mit einem Debt-to-Equity-Swap, also der Umwandlung von Fremd- in Eigenkapitalbeteiligungen. Bail-ins sind sowohl zur Rekapitalisierung eines insolvenzreifen Instituts als auch mit dem Ziel der Kapitalisierung eines Brückeninstituts zulässig, das vorübergehend, bis zur endgültigen Abwicklung, systemrelevante Austauschbeziehungen der insolventen Bank zu Kunden und anderen Gegenparteien aufnehmen kann. Im Ergebnis sollen Bail-ins eine Verlustverteilung sicherstellen, die sich in weitem Umfang an die Rangordnung im traditionellen Insolvenzverfahren anlehnt. Das Instrument ist damit Kernbestandteil der Bemühungen um eine Annäherung der Verfahrensergebnisse an diejenigen des allgemeinen Insolvenzrechts.Ganz allgemein sollte indessen nicht übersehen werden, dass das mit Bail-ins zwangsläufig verbundene Ausmaß an rechtlicher und wirtschaftlicher Unsicherheit beträchtlich ist. Es handelt sich um ein neuartiges Instrumentarium, für das es keine wirklich überzeugenden Präzedenzfälle gibt. Erfahrungswerte, die den Abwicklungsbehörden Anhaltspunkte für die Ausgestaltung und den betroffenen Gläubigern Rückschlüsse über das zu erwartende Ausmaß ihrer Verluste ermöglichen würden, liegen nicht vor. Diese Unsicherheiten dürften, worauf gerade in der wirtschaftswissenschaftlichen Literatur zu Recht aufmerksam gemacht wird, mit erheblichen Rückwirkungen auf den Markt für von Banken emittierte Finanzierungsinstrumente verbunden sein. Diese Unwägbarkeiten sollen zwar mittel- bis langfristig durch die Vorabfestlegung von Mindestanforderungen an Eigenmittel und Bail-in-fähige Verbindlichkeiten beseitigt werden. Ob dies tragfähig möglich sein wird, ist allerdings nicht unumstritten – und zumindest wird das erst langfristig etabliert werden können. Gravierende BedenkenMit diesen Problemen gehen gravierende Bedenken für die Tauglichkeit des Bail-ins zur Bewältigung von Systemkrisen einher. Dies gilt gerade auch für den Übergangszeitraum bis zur Einführung der Mindestanforderungen an eine Bail-in-kompatible Kapitalstruktur: Sollte eine Bank sich zu einem erheblichen Anteil über das Einlagengeschäft refinanzieren, wird ein Bail-in ohne die Einbeziehung der nicht durch die Einlagensicherung geschützten Bankeinleger bis auf Weiteres kaum möglich sein. Die Konsequenzen eines dann drohenden Vertrauensverlustes in die Stabilität des betroffenen Bankensystems insgesamt hat nicht zuletzt der 2013 hinsichtlich der zypriotischen Laiki-Bank durchgeführte Bail-in von Kundeneinlagen illustriert, der letztlich nur mit flankierenden drastischen Kapitalverkehrskontrollen ohne massive Kapitalflucht ins Ausland bewältigt werden konnte. Selbst wenn derartige Folgen vermieden werden können, lassen schon die ungewissen langfristigen Wirkungen von Bail-ins für die Refinanzierungsbedingungen der Banken die Anwendung in einer den gesamten Markt erfassenden Krisensituation riskant erscheinen. Dass gerade Italien für Lockerungen hinsichtlich der in der Richtlinie vorgegebenen Mindestverpflichtung zur Einbeziehung der Gläubiger in die Verlusttragung bei Bankeninsolvenzen eintritt, ist damit vor dem Hintergrund der aktuellen Krisenlage durchaus nachvollziehbar.Ein zentrales Argument gegen die Anwendung dieses Instrumentariums in Italien ist damit noch nicht angesprochen. Tatsächlich verhält es sich offenbar so, dass an sich genügend “Bail-in-fähige” Fremdkapitalinstrumente bei den italienischen Banken durchaus vorhanden wären. Zur Refinanzierung des Aktivgeschäfts sind dem Vernehmen nach in großem Stile Schuldverschreibungen emittiert worden. Ein Bail-in wäre damit wohl vielfach möglich, ohne dass auf Kundeneinlagen oberhalb der Einlagensicherungsgrenze zurückgegriffen werden müsste. Wo also liegt das Problem? Es liegt in dem Umstand, dass die betreffenden Kapitalinstrumente offenbar unter Hinweis auf eine höhere Verzinsung recht erfolgreich als Alternative zur klassischen Bankeinlage an Kleinsparer vermarktet worden sind. Ein Bail-in würde damit die Verluste auf Anleger verteilen, die auf die Ersparnisse besonders angewiesen und zugleich gar nicht in der Lage gewesen sind, die Risiken der erworbenen Finanzinstrumente realistisch zu bewerten. Das Ergebnis wäre, mit anderen Worten, letztlich kein anderes als das der Einbeziehung von Einlagen. Von den sozioökonomischen und politökonomischen Konsequenzen ganz abgesehen, die bis zu einem möglichen Sturz der Regierung und politischem Chaos mit ungewissen Fernwirkungen für den Fortbestand der Währungsunion reichen, ist dies ganz sicher nichts, was mit dem Regelungsziel der BRRD in Einklang zu bringen wäre: Der Versuch, risikobewusstes Verhalten von Investoren durch Effektuierung von Verlustrisiken anzuregen, ist bei Kleinanlegern typischerweise von vornherein zum Scheitern verurteilt. Das zentrale Regulierungsanliegen der BRRD – Wiederherstellung einer ordnungspolitisch überzeugenden Anreizstruktur – lässt sich hier, mit anderen Worten, von vornherein wohl gar nicht realistisch herbeiführen. Risiko VertrauensverlustIm Übrigen steht zu befürchten, dass der Bail-in in der gegenwärtigen Krisensituation – wie in Zypern – einen sektorweiten Vertrauensverlust auch unter den Inhabern an sich geschützter Einleger auslösen dürfte. Die Konsequenzen insgesamt wären wiederum nur mit drastischen Kapitalverkehrskontrollen in den Griff zu bekommen. Dass diese Gift für die ohnedies prekäre gesamtwirtschaftliche Situation in Italien wären, bedarf kaum der näheren Begründung. Es ist – zumal nach den Erfahrungen mit der Situation in Griechenland – mehr als zweifelhaft, ob man dieses Experiment im ungleich bedeutenderen, für die Währungsunion insgesamt “systemrelevanten” Italien sehenden Auges wagen sollte. All dies führt zunächst zu drei recht ernüchternden Ergebnissen. Erstens: Die Tauglichkeit der BRRD allgemein und insbesondere des Bail-in-Instruments als Instrument zur Bewältigung systemischer Bankenkrisen ist mehr als zweifelhaft. Zweitens: Ein Bail-in sollte allgemein, wenn überhaupt, nur dann durchgeführt werden, wenn hinreichende Kenntnisse über die Zusammensetzung der betroffenen Gläubiger vorliegen und ausgeschlossen werden kann, dass die wirtschaftlichen Implikationen für die unmittelbar betroffenen Gläubiger, die Refinanzierungsmöglichkeiten allgemein und letztlich die Gesamtwirtschaft nicht geradezu brandbeschleunigend wirken. Und drittens: Weil dies in Italien nicht gewährleistet wäre, ist von Versuchen, in der jetzigen Situation ordnungspolitische Idealvorstellungen um jeden Preis durchzusetzen, dringend abzuraten. Vorbild SkandinavienWenn damit gute Gründe für die Annahme vorliegen, dass die BRRD als Instrument zur Systemkrisenbewältigung nicht geeignet ist, bleibt naturgemäß die Frage nach Alternativen über die kurzfristige Stabilisierung durch Staatsgeld hinaus, die ja zweifellos schon mit Blick auf die damit verbundenen Fehlanreize (“Moral Hazard”) mit eigenen Problemen verbunden ist. Einen möglichen Ausweg weist die recht erfolgreiche Bewältigung der skandinavischen Bankenkrise Anfang der 1990er Jahre. Auch hier hat sich der Fiskus zur Krisenbewältigung umfassend und mit (vorübergehend) hohen Belastungen engagiert, dies allerdings nicht bedingungslos und lediglich zur Rettung anderenfalls insolvenzbedrohter Banken. Effektivere LösungVielmehr sind die Hilfen unter der Bedingung umfassender, hoheitlich geleiteter Restrukturierungsmaßnahmen gewährt worden, was eine drastische Neuorganisation des gesamten Finanzsektors ausgelöst und ermöglicht hat. Viel spricht für die Annahme, dass darin – in der Wahrnehmung der Infrastrukturverantwortung des Staates für eine nachhaltige Ausrichtung der nationalen Bankensysteme – eine ungleich überzeugendere, effektivere Lösung für die Bankenprobleme in Südeuropa läge, als sie die Anwendung des BRRD-Instrumentariums je bieten könnte. Die BRRD ist auf einzelne Insolvenzfälle zugeschnitten. Nachhaltige Lösungen für sektorweite Krisen bietet sie nicht. Es wäre tragisch, wenn der berechtigte Wunsch einer Rückkehr zu grundlegenden ordnungspolitischen Grundsätzen den Blick dafür verstellen würde.—-Jens-Hinrich Binder, Lehrstuhl für Bürgerliches Recht, Handels- und Wirtschaftsrecht Eberhard-Karls-Universität Tübingen