Taktische Allokation: Grundlagen und Umsetzungswege
Geringere mittelfristige Ertragserwartungen für Aktien durch höhere Bewertungen, negative Renditen bei europäischen Staatsanleihen bester Bonität – und damit einhergehend ein geringerer Diversifikationseffekt zwischen beiden Anlageklassen: Die Herausforderungen in der Asset-Allokation liegen aktuell klar auf der Hand. Ein Allokationsprozess, der mit ihnen angemessen umgehen will, muss daher sowohl das mittelfristige (strategische) als auch das kurzfristige (taktische) Umfeld berücksichtigen, um zu bestmöglichen Investmentlösungen zu kommen. Taktische Selektion gefragt Was aber heißt das konkret? Dem aktuellen Umfeld mit höheren Aktienquoten, Fremdwährungs- und Schwellenländeranleihen zu begegnen, kann nur ein Teil der Antwort sein. Mehr denn je muss es vielmehr darum gehen, taktische Entscheidungen sowie die entsprechende Selektion in den Vordergrund zu stellen – und darüber hinaus auch Nachhaltigkeitskriterien zu berücksichtigen.Nicht erst seit der Coronakrise haben sich Einflussfaktoren auf die Preisbildung an den Kapitalmärkten und Zusammenhänge zwischen Assetklassen verändert – möglicherweise dauerhaft. Dabei variiert die Bedeutung der einzelnen Komponenten in einem komplexen Geflecht aus technischen, durch Sentiment getriebenen, fundamentalen und politischen Faktoren ständig. Zuletzt hat zum Beispiel der Einfluss politischer Entscheidungen erneut stark zugenommen. Ein Indiz dafür ist, dass die Notenbanken immer stärker in das Marktgeschehen eingreifen.Um in diesem Umfeld einen klaren Kompass zu behalten und gleichzeitig am Puls der Zeit zu sein, nutzen wir zur Allokation eine Mischung aus Modellen und qualitativer Einschätzung. Modellseitig setzen wir an unterschiedlichen Punkten an: Von der Auswertung von Konjunkturdaten der wichtigsten Volkswirtschaften über Modelle, die Momentum-Signale nutzen, bis hin zu solchen, die Einschätzungen im Bereich der Fremdwährungen untermauern. Um hieraus die richtigen Schlussfolgerungen zu ziehen, ist jedoch Erfahrung vonnöten, denn der Modell-Output muss vernünftig in das jeweilige Umfeld eingeordnet werden. Nichtsdestotrotz gibt es Zeiten, in denen es richtig ist, bestimmte Daten grundsätzlich zu ignorieren: Wer will schon beispielsweise beim Ausbruch einer globalen Pandemie darauf warten, dass sich die Konjunkturdaten tatsächlich verschlechtern?Im Rahmen der Allokation gewinnt die konsequente Nutzung taktischer Bandbreiten inklusive eines dem Risikobudget dienlichen und chancenorientierten Derivateeinsatzes zunehmend an Bedeutung. Über die Quotensteuerung mit Anleihen und Aktien hinaus waren für unsere Long-only-Multi-Asset-Portfolios beispielsweise im ersten und zweiten Quartal dieses Jahres der Einsatz von Short-Put-Optionen auf Aktienindizes sowie im dritten Quartal eine weitgehende Absicherung von Fremdwährungen (vor allem des US-Dollar) gegenüber dem Euro vorteilhaft.Im Rahmen restriktionsarmer Mandate wie unserer Total-Return-Fonds gerieten risikoparitätisch aufgesetzte relative Positionierungen zu den wichtigsten Werttreibern. Sie verhalten sich zudem zu klassischen Long-only-Anlagen nahezu unkorreliert. Dabei setzten wir als Long-Short-Trades einzelne Aktienmärkte im Sinne von Ländern, Regionen oder Branchen mit Index-Futures oder für die Long-Seite zum Teil börsengehandelte Indexfonds gegeneinander. Bei Rentenanlagen ergänzen neben relativen Länderpositionen auch Positionierungen auf der Zinsstrukturkurve die Anlagen. Selbst bei den Verwerfungen an den Kapitalmärkten im März blieb die Volatilität in diesen Strategien innerhalb des definierten Zielkorridors, während nahezu alle Assetklassen einen sprunghaften Anstieg der Volatilität verzeichneten. Vorteile durch ESGNachhaltige Kapitalanlagen stoßen zusehends auf mehr Interesse und begegnen uns regelmäßig als Anforderung seitens der Anleger. Dabei zeigen sich auf Indexbasis und im aktiven Management Vorteile in der Wertentwicklung. Für den Gesamterfolg von Kapitalanlagen gewinnt die Selektion angesichts geringerer Ertragsaussichten an Bedeutung. Performancevorteile beobachten wir hier vor allem durch eine konsequente ESG-Ausrichtung der Portfolios. So nutzen wir in unseren Multi-Asset-Mandaten nachhaltige Publikumsfonds, um Assetklassen wie Schwellenländerstaatsanleihen und Wandelanleihen beizumischen. Diese weisen regelmäßig eine Outperformance im Vergleich zu breiten Indizes auf und verzeichnen geringere Drawdowns. So führt ein ESG-Ansatz zum Ausschluss etwa von Staatsanleihen von Ländern, in denen Menschenrechte verletzt werden. Genau bei diesen Staatsanleihen gibt es jedoch oftmals Drawdown-Anfälligkeiten oder gar das Risiko von Kapitalschnitten. Konkret bedeutet dies, dass ein ESG-Ansatz bei Schwellenländeranleihen die größten Risikotreiber herausfiltert. Bei Unternehmen werden vor allem unter dem Aspekt Governance auffällige Emittenten sowie Umweltsünder ausgesiebt, was zu einem tendenziell höheren Technologie-Gewicht führt. Wir sehen dies beispielsweise bei nachhaltigen Wandelanleihefonds. Die Gewinner der Digitalisierung und auch der aktuellen Pandemie sind übergewichtet und führen zu einer starken Outperformance, während Unternehmen, die anfällig für Umweltschäden sind, untergewichtet werden. Positive Selektion notwendigWomit wir wieder bei den Herausforderungen wären: Mit Anleihen ist aktuell nur noch die Risikoprämie zu verdienen, gleichbedeutend mit etwa 0,5 % Rendite für europäische Unternehmensanleihen. Für Aktien erwarten wir in den nächsten fünf Jahren etwa 5 bis 7 % pro Jahr. Um auch in diesem Umfeld für Investoren zufriedenstellende Erträge bei angemessenen Risiken erzielen zu können, sind positive Selektionsbeiträge und vor allem eine taktische Allokation notwendig, die Investitionsquoten engagiert und nur wenig prozyklisch bewegt. Deshalb haben wir unsere Prozesse auf diese Ertragsquellen hin gestärkt. Matthias Thiel, Portfoliomanager Multi Asset & Liquid Alternatives bei Warburg Invest