LEITARTIKEL

Torkeln im Schlussspurt

Es sind erschreckende Bilder, wenn nach Langstreckenrennen erschöpfte Läufer am Ende ihrer Kraft nur noch ins Ziel torkeln. Doch so ähnlich verläuft der Prozess beim Mammutprojekt Solvency II. Im Schlussspurt zu den neuen risikobasierten...

Torkeln im Schlussspurt

Es sind erschreckende Bilder, wenn nach Langstreckenrennen erschöpfte Läufer am Ende ihrer Kraft nur noch ins Ziel torkeln. Doch so ähnlich verläuft der Prozess beim Mammutprojekt Solvency II. Im Schlussspurt zu den neuen risikobasierten Eigenkapitalregeln für die europäische Versicherungswirtschaft droht den Beteiligten die Puste auszugehen. Zu allem Überfluss haben die Wettkampfrichter (wieder einmal) die Ziellinie nach hinten verschoben. Vom Starttermin 1. Januar 2013 hat sich mittlerweile auch die deutsche Finanzaufsicht offiziell verabschiedet. “Derzeit ist geplant, dassdie Solvency-II-Richtlinie ab dem 1. Januar 2014 in vollem Umfang anzuwenden ist”, heißt bei der BaFin. Doch die Formulierung lässt durchblicken, dass auch dieses Datum längst schon wackelt.Solvency II will einfach nicht richtig funktionieren – und das aus mehreren Gründen: Die Arbeiten am Regelwerk in den ersten Jahren standen unter völlig anderen Vorzeichen. Die tiefgreifende Finanz- und die anschließende Staatsschuldenkrise waren damals noch kein Thema. Insbesondere für die deutschen Lebensversicherer mit ihren jahrzehntelangen festen Garantieversprechen an die Kunden war das Japan-Szenario nicht mehr als ein theoretisches Schreckgespenst. Mittlerweile stellt eine anhaltende Niedrigzinsphase die größte Bedrohung für die Branche dar. Umgekehrt stehen die Lebensversicherer in Spanien, Italien oder Griechenland vor völlig anderen Problemen. Solvency II erinnert an einen Marathonlauf, bei dem auf den letzten Kilometern das Wetter umschlägt und die Läufer unter völlig veränderten Bedingungen ans Ziel kommen.Das Projekt folgt längst nicht mehr rein ökonomischen Prinzipien. Die Politik hat sich eingemischt. Am deutlichsten wird das an der Tatsache, dass aktuell im Standardmodell Staatsanleihen der Euro-Peripheriestaaten immer noch nicht mit Eigenkapital unterlegt werden müssen.Und es darf auch wieder die Grundsatzfrage gestellt werden: Inwieweit kann man zum Teil völlig unterschiedlich funktionierende nationale Versicherungsmärkte harmonisieren? Die EU-Kommission hat versucht, das Regelwerk fein auszutarieren – ist damit aber in vielen Punkten gescheitert. Dafür gibt es bizarre Beispiele. Ein beliebtes Bonmot in der deutschen Assekuranz lautet, dass ein Investment in den Bau einer Brücke über den Mittelrhein in Form einer öffentlich-privaten Partnerschaft unter Solvency II genauso behandelt wird wie eine Minderheitsbeteiligung an einem Telekommunikationsunternehmen in Simbabwe.In Deutschland hat der Gesamtverband der Deutschen Versicherungswirtschaft im Frühjahr für die hiesige Assekuranz noch einmal eine Auswirkungsstudie veranstaltet. QIS 6 ist von der europäischen Aufsichtsbehörde EIOPA und auch der EU-Kommission mit Interesse verfolgt worden. Die Öffentlichkeit bleibt leider im Dunkeln. Der GDV will die Ergebnisse nicht publizieren. Doch hört man sich dieser Tage in der Branche um, trägt QIS 6 nicht zum gelassenen Umgang mit Solvency II bei – eher das Gegenteil ist der Fall.Versicherungsvorstände beklagen allerorten die hohe Volatilität in den Ergebnissen. Eine um 40 bis 50 % schwankende Eigenmittelausstattung binnen weniger Wochen, ohne dass sich im Unternehmen selbst etwas grundlegend geändert hat, ist keine Seltenheit. Auch ist von äußerst fragwürdigen Ergebnissen im Standardmodell für die Krankenversicherer zu hören. Das öffentliche Murren nimmt an Lautstärke zu.Die Grundprinzipien von Solvency II werden nach wie vor von praktisch niemandem angezweifelt. Nur die Formel für ein praxistaugliches Modell hat bis heute keiner gefunden. Gefühlt liegt der Starttermin für das europäische Prestigeprojekt heute ferner als vor einem Jahr. Ob die krisengeschüttelten Zyprioten während ihrer EU-Ratspräsidentschaft die Energie aufbringen, einen tragfähigen Kompromiss auszuhandeln, ist fraglich. Lange Übergangsfristen kristallieren sich heraus, auch wenn Vorschläge wie jüngst zur siebenjährigen Schonfrist für den Lebensversicherungs-Altbestand technisch unausgegoren wirken. Das EU-Parlament fordert mittlerweile eine weitere Auswirkungsstudie, um die jüngsten vereinbarten und diskutierten Änderungen am Modell nochmals in der Praxis zu testen. Das würde den Zeitplan um weitere Monate verzögern. Um im Marathonbild zu bleiben: Den Solvency-Ausdauersportlern droht eine weitere Schleife. Hoffentlich verlaufen sie sich nicht.——–Von Antje Kullrich ——- Der Starttermin für Solvency II steht in den Sternen. Der bisherige Entwurf eines Regelwerks für Europas Versicherer funktioniert nicht.