Unterschätzte Einsturzgefahren
Von Detlef Fechtner, Frankfurt Das Wetter ist gut, die Stimmung gelassen: Als Europas Finanzminister am Donnerstag, dem 11. September 2008, in Nizza zu ihrem halbjährlichen informellen Treffen zusammenkommen, ahnt keiner der Ressortchefs, dass die große Katastrophe nur noch ein Wochenende entfernt ist. Zwar stehen die Aktien von Lehman Brothers in New York bereits seit Tagen gehörig unter Druck. Trotzdem spielen die Probleme der US-amerikanischen Investmentbanken bei der Ecofin-Zusammenkunft in Südfrankreich allenfalls eine klitzekleine Nebenrolle. Vielmehr streiten die Minister eifrig über die EU-Wettbewerbsregeln – insbesondere über die Frage, ob die EU-Kommission die WestLB in unangemessener Art und Weise unter Zeitdruck gesetzt und damit ihre Notlage verschärft habe. Auch macht sich der eine oder andere Minister Gedanken wegen der konjunkturellen Abkühlung. Aber insgesamt gibt es unter den Sitzungsteilnehmern wenig Anlass zu echter Besorgnis. Die Probleme sind, so scheint es, allesamt handhabbar – “manageable”.Als sich der damalige Bundesfinanzminister Peer Steinbrück abends mit Journalisten auf der Dachterrasse eines Strandhotels über die drängendsten Fragen der Zeit unterhält, dreht sich das Gespräch zunächst eine halbe Ewigkeit um die Lage der Sozialdemokratie nach dem jähen Abgang von Kurt Beck als Bundesvorsitzendem, um die Zukunft des VW-Gesetzes und um EU-Wettbewerbskommissarin Neelie Kroes. Erst als der Abend schon weit fortgeschritten ist, fragt ein amerikanischer Finanzjournalist den Bundesfinanzminister, ob ihm die mittlerweile existenzielle Krise von Lehman keine schlaflosen Nächte bereiten würde. Steinbrück antwortet darauf, wie er es bereits in den Tagen zuvor auch in öffentlicher Runde getan hat: Dass es doch gefährlich sei, Bankhochhäuser einstürzen zu lassen, weil sie die ganze Nachbarschaft mitzertrümmern könnten. Dass es deshalb Aufgabe von Regierungen und Aufsichtsbehörden sei, dafür zu sorgen, dass brüchige Banken nur dann zusammenbrechen, wenn sichergestellt sei, dass sie in sich selbst zerfallen und ihr Einsturz niemand anderen mitreißt. Und, ja, dass er sich zu diesem Zeitpunkt nicht wirklich vorstellen könne, dass die amerikanische Regierung oder die US-Notenbank ein solches Risiko einzugehen bereit sei – und man in Washington und New York deshalb sicherlich eine Lösung finden werde.Bekanntermaßen liegt Steinbrück mit dieser Einschätzung daneben. Vier Tage später bricht Lehman zusammen, tags drauf ringt der Versicherer AIG bereits ums Überleben, nur kurze Zeit später kippt die Großbausparkasse Washington Mutual um. Und gerade einmal zwei Wochen später kommt die Finanzkrise endgültig auch in Europa an. In Deutschland muss die Hypo Real Estate von Bund und Banken finanziell notbeatmet werden. Belgien, die Niederlande und Luxemburg springen zeitgleich der schwer angeschlagenen Fortis zur Seite. In Großbritannien wiederum muss die Hypothekenbank Bradford & Bingley verstaatlicht werden. Und damit noch längst nicht genug. Der Staatsfinanzierer Dexia gerät 14 Tage nach der Lehman-Pleite ebenfalls in schwieriges Fahrwasser. Kurzum – und um in Steinbrücks Bild zu bleiben: Der Einsturz eines Hochhauses erschüttert nicht nur die unmittelbare Nachbarschaft, sondern ist weltweit auf den Finanzseismographen wahrnehmbar.Dabei hätte Steinbrück übrigens an jenem lauen Sommerabend gewarnt sein können. Denn der damalige Bundesbankpräsident Axel Weber ist zwar ebenfalls zu Gast auf der Dachterrasse, kann aber der Unterhaltung kaum folgen, weil er immer und immer wieder auf dem Mobiltelefon angerufen wird. Mancher der Journalistenkollegen stellt sich damals die Frage, warum ein Notenbanker mitten in der europäischen Nacht so ein gefragter Mann am Telefon sei. Dass die Anrufe seinerzeit wahrscheinlich aus einer Zeitzone kommen, in der es noch helllichter Tag ist, wenn in Nizza schon der Mond scheint, wird vielen der Anwesenden erst bewusst, als sich im Laufe des Freitags, Samstags und Sonntags die Hiobsbotschaften aus den USA verdichten.