Vielversprechende Digitalisierungsinitiativen
Die wirtschaftliche Lage in Niedersachsen ist traditionell sehr abhängig von der Automobilindustrie. Geht es Volkswagen & Co. gut, profitiert auch das gesamte Bundesland. Schwächelt VW, so wie zuletzt im April, als der Konzern weltweit 6,6 % weniger Autos verkaufte als im Vorjahreszeitraum, bremst es auch Niedersachsens Konjunktur. Wie groß der Anteil von Volkswagen und den Zulieferern – zu nennen wäre da allen voran Continental – an der Wirtschaftsleistung letztendlich ist, lässt sich aufgrund fehlender bundeslandbezogener Wertschöpfungsangaben auf Unternehmensseite nicht genau beziffern.Die letztjährigen Untersuchungen der Norddeutschen Landesbank haben aber ergeben, dass Volkswagen allein für 60 % der Wertschöpfung der 50 größten Firmen steht. Continental, Tui, Talanx und der Stahlkonzern Salzgitter folgen auf den weiteren Plätzen. Konzerne, die ebenfalls ein ganz besonders entscheidender Wirtschaftsfaktor in Niedersachsen sind und die das Bundesland nachhaltig prägen – auch in digitaler Hinsicht. Während viele Unternehmen aus Mittelstand und Handwerk die Potenziale von datengetriebenen Geschäftsmodellen zwar erkannt haben, sind die Anwender bisher meist die Großunternehmen. Branchenübergreifende SucheVor gewaltigen Herausforderungen steht die Automobilindustrie. Der Systemwechsel zur Elektromobilität muss vollzogen und gleichzeitig die Digitalisierung der Autos gemeistert werden. Volkswagen will etwa 3,5 Mrd. Euro in seine “Digitalisierungsoffensive” stecken. Dabei hat der größte Automobilhersteller der Welt weiter mit den Nachwehen des Dieselskandals zu kämpfen. Die Kosten liegen mittlerweile bei in etwa 30 Mrd. Euro. Die Arbeitgebermarke hat darunter natürlich deutlich gelitten, und digitale Talente dürften es sich im Moment ganz genau überlegen, ob sie den Schritt nach Wolfsburg wagen. Zumal sich auch die Unternehmenskultur im Wandel befindet.Indes ist der Bedarf groß: Bei VW ist man händeringend auf der Suche nach Digitalisierungsexperten. Kürzlich wurde bekannt, dass angesichts der Trends zu E-Mobilität, Vernetzung und autonomem Fahren allein bei der Marke VW Pkw mindestens 2 000 neue IT-Jobs rund um Software und Elektronikarchitektur entstehen sollen. Doch die Konkurrenz in puncto Digitalisierungsexpertise ist hoch – branchenübergreifend: Laut MINT-Frühjahrsreport des Instituts der Deutschen Wirtschaft ist die Lücke zwischen Angebot und Nachfrage im Laufe von nur vier Jahren auf fast 60 000 Fachkräfte und somit auf mehr als das Dreifache gestiegen.In Hannover, wo der weltweit führende Touristikkonzern, die Tui AG, die Digitalisierung seiner Prozesse vorantreibt, schickt man sich derweil an, die Reiseindustrie zu revolutionieren. Geplant ist dort ein einheitliches System auf Blockchain-Basis, das den Kunden Vorteile bei der Buchung von Hotelzimmern sowie passgenaue Ausflüge garantieren soll – alles nach Wunsch natürlich. Über eine App, an der momentan rund 50 Software-Experten arbeiten und deren Anzahl noch verdoppelt werden soll. Gefragte TätigkeitenDass es der Touristikbranche in Niedersachsen ohnehin an Fachkräftepersonal mangelt, macht dieses Unterfangen nur ungleich leichter. Gefragt sind vor allem System Engineers und Business Development Manager. Wobei interne Aus- und Weiterbildungsmaßnahmen gerade im Bereich IT wichtige Treiber bleiben. Ohnehin muss es Aufgabe der Unternehmen sein, in die digitale Transformation der Mitarbeiter zu investieren.Auch die Versicherungsbranche ist in Niedersachsen prominent vertreten. Der hinter der Allianz und Munich Re drittgrößte deutsche Versicherer Talanx hat ebenfalls in Hannover seinen Stammsitz – und befindet sich mitten im digitalen Wandel. Im Fokus steht dort die innovative Datenanalyse unter Einbeziehung von Künstlicher Intelligenz (KI). Dabei sind erste digitale Anwendungen bereits ausgerollt worden: Bei der Suche nach Personal setzt der Versicherer seit Jahresbeginn auf KI. Potenzielle Neuzugänge stellen sich einem digitalen Eignungstest, der in etwa einer halben Stunde durch Sprachanalyse die Bewerberpersönlichkeit analysiert. Der Vorteil: Das zeit- und kostenaufwendige Assessment Center entfällt komplett, und die Human-Resources(HR)-Verantwortlichen werden von Routineaufgaben befreit. Ein kluger SchrittÄhnlich digital geht es etwa 50 Kilometer südöstlich zu, bei der börsennotierten Salzgitter AG. Der Stahlkonzern bereitet seine Mitarbeiter seit diesem Frühjahr auf die digitale Arbeitswelt vor, per “Smart Lab”. Allen Unternehmensmitarbeitern steht es frei, sich in diesem intelligenten Labor umzuschauen, digitale Anwendungen auszutesten und sich damit vertraut zu machen. Auf diese Weise sollen Unsicherheiten oder gar Ängste genommen werden. Ein kluger Schritt. Denn bei einem Transformationsprozess handelt es sich nicht nur um eine technologische Organisationsverbesserung, sondern immer auch um eine unternehmenskulturelle Umwälzung, die Verunsicherungen auf Mitarbeiterebene hervorrufen kann.In digitaler Hinsicht befinden sich die niedersächsischen Großunternehmen auf einem guten Weg. Die Weiterentwicklung, Anpassung und der Ausbau der Geschäftsmodelle im Rahmen des Wandels sind dabei ein wichtiger Schritt, ebenso wie die Entwicklung und das Aufsetzen einer Innovationskultur und deren nachhaltige Verankerung in der Organisation. Nicht als Bedrohung begreifenWas die Unternehmen miteinander gemein haben, ist, dass sie branchenübergreifend viel mehr Anstrengungen in Kauf nehmen müssen, um die immer größere Lücke von Experten zu füllen. Es bedarf kreativer Ideen, damit Unternehmen hoch-qualifizierte Talente nicht nur gewinnen, sondern auch nachhaltig binden können. Digitale Fachkräfte, die anfallende Transformationsaufgaben aktiv und mit Begeisterung umsetzen. Denn zukünftig werden jene Unternehmen erfolgreich sein, die künstliche Intelligenz und digitale Transformationsprozesse als Chance und nicht als Bedrohung begreifen. Harald Smolak, Leiter der Functional Solution Group Human Resources bei der Atreus GmbH