Was bei ESG-Ratings zu berücksichtigen ist

Gründliche, fundamentale Bottom-up-Analyse nötig

Was bei ESG-Ratings zu berücksichtigen ist

Was Anfang März vor einem deutschen Gericht verhandelt wurde, hat Signalwirkung für die Zukunft nachhaltiger Investments. Erstmals in Deutschland war ein Unternehmen gerichtlich gegen das Nachhaltigkeitsrating vorgegangen, das ihm von einer spezialisierten Agentur zugesprochen worden war. Der Rechtsstreit wirft ein Schlaglicht darauf, wie wichtig die Nachhaltigkeitsratings für Unternehmen und Investoren sind – und wie kontrovers man über ein Rating diskutieren kann, das vermeintlich objektiven Maßstäben folgt.Für Investoren und Vermögensverwalter gewinnen die Ratings an Bedeutung, weil sie einen immer größeren Anteil ihrer Gelder unter Berücksichtigung von ESG-Kriterien (ESG – Environment, Social, Governance) anlegen. Dieser Trend wird durch die Coronakrise nochmals beschleunigt. Umso mehr brauchen Investoren zuverlässige Methoden für die Beurteilung der Nachhaltigkeit von Unternehmen und Wertpapieren. Enttäuschung wahrscheinlichUm dabei nicht beliebige Kriterien zu wählen, verlassen sie sich auf standardisierte und vermeintlich objektive Urteile der auf Nachhaltigkeit spezialisierten Ratingagenturen. Diese definieren für die drei ESG-Dimensionen Kriterien, operationalisieren sie und lassen sie am Ende in eine Zahl oder eine Note münden. Das mag genau die Art von Vereinfachung sein, die es erlaubt, einer Investition das Siegel “nachhaltig” aufzudrücken. Doch suggeriert diese Verdichtung auf eine einfache Schlussbewertung eine Verlässlichkeit, die ein solches Rating de facto nicht leisten kann. Investoren werden deswegen auf lange Sicht zwangsläufig von den gängigen Systematiken der Ratingagenturen enttäuscht werden.Dafür gibt es drei wesentliche Gründe. Erstens ist die schiere Bandbreite der ESG-Themen nicht leicht zu operationalisieren, da diese schwer voneinander abzugrenzen und miteinander zu vergleichen sind. Ein Nachhaltigkeitsrating und dessen Bestandteile – also Punktzahlen oder Bewertungen in einzelnen Kategorien – legen nahe, dass sich die Kriterien auch untereinander in Beziehung setzen lassen. Für die Produktionsbedingungen eines Industriebetriebs mag es dann die gleiche Punktzahl geben wie für die Governance-Regelungen eines Musikstreaming-Dienstes. Aber was soll das einem Investor sagen? Fokus auf den Status quoDer zweite Grund für das Enttäuschungspotenzial der ESG-Ratings ist ihr Fokus auf den Status quo. Es heißt, an der Börse werden die Erwartungen künftiger Gewinne gehandelt. Warum geben wir uns dann bei der Analyse der Nachhaltigkeit von Unternehmen mit dem Status quo zufrieden? Eine wirklich umfassende Analyse eines Unternehmens unter ESG-Aspekten muss berücksichtigen, wie dynamisch sich die jeweilige Firma weiterentwickelt. Zudem sollte dringend beachtet werden, wie ein Unternehmen mit seinen Produkten oder seinen Forschungsergebnissen einen Beitrag zu einer besseren Welt leistet. Bisher blenden Ratings das aus. Dritter KardinalfehlerDer dritte Kardinalfehler der meisten ESG-Ratings ist, dass ihr scheinbar objektives Ergebnis sich auf diejenigen “Fakten” stützt, die die von ihnen bewerteten Unternehmen selbst präsentieren. Zugespitzt bedeutet das, dass Unternehmen weniger nach ihrer Leistung und ihrem Handeln bewertet werden, sondern vielmehr nach ihrer Nachhaltigkeitskommunikation und ihrer Fähigkeit, die richtigen Richtlinien und externen Standards abzuarbeiten.Das deutsche Technologieunternehmen Isra Vision, das gegen sein Rating geklagt hat, störte sich genau daran. Die Ratingagentur hatte immer dort, wo keine Informationen von Seiten des Unternehmens zu bekommen waren, negative Noten vergeben, was zu einer sehr schlechten Gesamtnote führte. Im Ergebnis bekam das Unternehmen recht, die Ratingagentur zog ihren Widerspruch gegen eine einstweilige Verfügung zurück. Weitreichende FehlschlüsseFür Isra Vision mag es gut ausgegangen sein. Dennoch gilt: Größere, etabliertere Unternehmen werden in der Regel höher eingestuft als diejenigen Firmen, die sich in einer früheren Phase ihrer Entwicklung befinden, wenn sie Kapital für Forschung und Entwicklung und nicht für Marketingzwecke reinvestieren. Diejenigen mit den besten Berichten und den am wenigsten identifizierten materiellen ESG-Risiken sind also tendenziell die Gewinner, meist ohne vollumfängliche Analyse ihrer wirklichen Auswirkungen auf Umwelt und Gesellschaft.Solche Mechanismen produzieren weitreichende Fehlschlüsse. Am Ende wird dann vielleicht ein Unternehmen, das lebensrettende Medizintechnik herstellt, als weniger nachhaltig beurteilt als Ölfirmen, Fast-Food-Ketten oder sogar große Tabakfirmen. Das ist umso dramatischer in einer Zeit, in der immer mehr Anlageentscheidungen auch auf Basis von Nachhaltigkeitsratings getroffen werden. Unternehmen mit weniger guten ESG-Ratings bekommen dann plötzlich keinen Zugang mehr zu Kapital, ohne dass die Hintergründe des Ratings weiter hinterfragt werden. Wie ist dieses Problem zu lösen? Blinde Flecken vermeidenHäufig wird Investoren geraten, mehrere spezialisierte Ratingagenturen als Quellen einzubeziehen, um blinde Flecken zu vermeiden. Auch die Ratingagenturen arbeiten in intensivem Wettbewerb hart daran, ihre Kapazitäten auszubauen und so die Aussagekraft und Verlässlichkeit ihrer Ratings zu verbessern. Das alles kann aber nur begrenzt weiterhelfen, weil das Problem im Charakter eines Ratings per se liegt. Das ist nicht die Schuld der Ratingagenturen. Sie legen sehr transparent dar, was sie tun und was nicht. Aber: Komplexe Nachhaltigkeitsfragen lassen sich genauso wenig in einem ESG-Rating zusammenfassen, wie die langfristigen Wachstumsaussichten eines Unternehmens sich an einem Discounted-Cash-flow-Modell ablesen lassen.Die schlechte Nachricht ist also: Es gibt für Investoren keine einfache Antwort. Weder gibt es ein ideales ESG-Rating, noch ist es mit dem Lesen des Nachhaltigkeitsberichts getan. Die Einschätzung der Nachhaltigkeit eines Unternehmens erfordert genauso wie die betriebswirtschaftliche und strategische Sicht eine gründliche, fundamentale Bottom-up-Analyse. Die gute Nachricht lautet: Wer sich in der Tiefe mit den Unternehmen beschäftigt und ihre Potenziale mit Weitblick einordnet, sollte langfristig zu den besten Anlageergebnissen kommen. Andrew Cave, Head of Corporate Governance and Sustainability bei Baillie Gifford