Weitere Bewegung in der Liga der großen Finanzplätze
Finanzzentren sind vermeintlich ein guter Indikator für die wirtschaftliche Stärke einer Volkswirtschaft. Nirgendwo wird die Wettbewerbsfähigkeit einer ganzen Branche, wenn nicht sogar die der gesamten Volkswirtschaft, so auf einen Nenner gebracht wie bei der Größe von nationalen Finanzplätzen. Meistens verdichtet sich die Diskussion dabei auf die Betrachtung der Megazentren wie London, New York oder Singapur. Im prominentesten Finanzplatzranking, dem zweimal jährlich berechneten Global Financial Centres Index hat New York gerade wieder einmal London den ersten Platz abgerungen. Ansonsten behaupten diese beiden Finanzplätze seit Beginn des Vergleichs im Jahr 2007 die Spitzenplätze. Mit diesen beiden Spitzenreitern sorgen Tokio, Zürich und Frankfurt noch für eine leichte Dominanz der alten Industrieländer.Dieser Zustand dürfte jedoch bald der Geschichte angehören, denn es ist nur eine Frage der Zeit, bis asiatische Finanzzentren das Ruder übernehmen. Dies spiegelt die wirtschaftliche Entwicklung in den Emerging Markets in den vergangenen Jahrzehnten wider. Bei Industrieproduktion und gesamter Wirtschaftsleistung liegt der Anteil der Schwellenländer mittlerweile bei über der Hälfte der Weltwirtschaft.Der Aufbau von Finanzinstitutionen ist der industriellen Entwicklung zeitlich nachgelagert, und so fand in den vergangenen Jahren eine rasante Entwicklung der Finanzmärkte in den Regionen Asiens oder des Nahen Ostens statt. Während nach der Finanzkrise die finanzielle Vertiefung in den Industrieländern ins Stocken geriet, hat sie in den Schwellenländern gerade erst begonnen. Dies drückt sich unter anderem in erhöhten Schuldenkennziffern der Schwellenländer aus. In den Jahren nach der Finanzkrise steigerten die Emerging Markets ihren Anteil an der weltweiten Verschuldung aller wirtschaftlichen Sektoren von 12 auf 26 %.Damit einher ging eine zunehmende Bedeutung der heimischen Finanzplätze. So finden sich mit Hongkong, Schanghai, Peking und Singapur bereits vier asiatische Städte unter den weltweit größten Börsenplätzen. Der Aufstieg von Zentren wie Dubai und Abu Dhabi (Rang 15 und 26), Tel Aviv (25) oder Seoul (33) und Kuala Lumpur (40) verdeutlicht den Trend.Neben dieser Strukturveränderung bei den ganz großen Finanzplätzen kommt im Ranking noch eine andere Tendenz zum Ausdruck: Begann die internationale Betrachtung von Finanzplätzen einmal als Vergleich der fünf großen Zentren, so sind heute 110 Städte in den Vergleich einbezogen, darunter viele Städte gleicher Nationalität. Dies verdeutlicht eine wichtige Eigenschaft der räumlichen Aufstellung von Finanzplätzen: Größe ist nicht alles.Die Tatsache, dass die Mega-Finanzplätze der Weltwirtschaft unabhängig von Fortschritten in der Kommunikationstechnologie weiterhin bestehen und wachsen, deutet zwar darauf hin, dass ein wichtiger Grund für das Bestehen solcher Agglomerationen weiterhin intakt ist: die Notwendigkeit von Netzwerken persönlicher Interaktion. Solche sozialen Netzwerke sind anscheinend in der Lage, das in einem sehr spezifischen Umfeld von spezialisierten Finanzdienstleistungen notwendige Vertrauen zu günstigeren Transaktionskosten bereitzustellen als andere räumliche Organisationsformen.Ebenso deutlich wird aber, dass nicht alle Produktionsprozesse des Finanzsektors sich für eine derartige Zentralisierung eignen. Kostensensitive, standardisierbare Tätigkeiten (Backoffice-Funktionen) werden im Zuge der internationalen Arbeitsteilung ausgelagert, auch an Nichtfinanzzentren. Vertriebsfunktionen, insbesondere im Kreditgeschäft, aber auch im Vermögensmanagement sind bislang kaum zentralisierbar, sondern werden häufig aus Unterzentren heraus organisiert. Im Ergebnis nehmen große Finanzzentren im Gefüge der Finanzsektoren eines Landes oder des Weltfinanzsystems bestimmte Funktionen wahr, überlassen allerdings viele weitere Funktionen kleineren Unterzentren oder räumlich noch tiefer gegliederten Ebenen.Für die europäischen Finanzplätze außerhalb Londons fällt darüber hinaus eine breite Streuung auf. Während aus den USA mit New York, Boston, San Francisco, Chicago und Washington fünf Zentren unter den ersten 40 Plätzen weltweit rangieren, sind es allein aus dem Euroraum 18 Städte, die mehr oder weniger gleichmäßig über die gesamte Skala verteilt sind. Das mag mit der geringeren Geschlossenheit des europäischen Finanzmarktes gegenüber dem US-amerikanischen sowie mit der Methodik solcher Rankings zusammenhängen, ist jedoch auch symptomatisch für die Unterschiede in den Finanzstrukturen.Das bankenzentrierte System ermöglicht tendenziell etwas weniger Zentralisierungspotenzial als die wertpapierorientierten Finanzsektoren. Zwar sollte auch im Euroraum weiteres Agglomerationspotenzial vorhanden sein, wenn der Trend der vergangenen Jahre hin zu vermehrter Kapitalmarktfinanzierung in Europa anhält. Zusätzlich wird auch die sich fortsetzende Vertiefung des Euroraums weitere Zentralisierungen nach sich ziehen. Tendenziell bleibt aber der Finanzsektor des Euroraums dezentraler aufgestellt als in anderen großen Währungsräumen. Wirtschaftlich dynamischer?Bei der Frage, ob Finanzzentren wirtschaftlich dynamischer sind als andere Ballungsräume, gibt es keine eindeutigen Ergebnisse. Kontinentaleuropäische Finanzzentren zeichnet aus, dass der Anteil von Finanzdienstleistungen im weiteren Sinn, also einschließlich begleitender Dienstleistungen, bei etwa 40 % der gesamten lokalen Wertschöpfung liegt. Im Falle Londons wird sogar mehr als die Hälfte der gesamten lokalen Wirtschaftsleistung in diesen Feldern erbracht. Im Vergleich zu anderen Agglomerationen einer Volkswirtschaft ist auch das Pro-Kopf-Einkommen in den Finanzzentren höher. Frankfurt, London und Paris weisen ein bis zu dreimal höheres Pro-Kopf-Einkommen auf als der Landesdurchschnitt, es liegt damit deutlich über dem anderer Städte des jeweiligen Landes. Davon leiten sich im nationalen Vergleich hohe Preisniveaus ab, sowohl bei Verbraucherpreisen als auch bei Vermögenswerten wie Immobilien.Doch wie wesentlich sind Finanzzentren für die Wettbewerbsfähigkeit einer Volkswirtschaft tatsächlich? Einen Zusammenhang zwischen Mega-Finanzplätzen und Wettbewerbsfähigkeit gibt es nicht. Vielmehr resultiert die Ausbildung der räumlichen Struktur des Finanzsektors aus anderen Faktoren: vor allem dem Zentralitätsgrad der gesamten Wirtschaftsstruktur einer Volkswirtschaft, aber eben auch aus der Ausrichtung des Finanzsystems auf kredit- oder anleihebasierte Instrumente. Ein deutlicherer Zusammenhang zwischen der Existenz von Mega-Finanzzentren und dem internationalen Handel von Finanzdienstleistungen besteht zumindest in Marktwirtschaften mit konvertiblen Währungen. So haben das Vereinigte Königreich sowie die USA mit einem Finanzanteil von 20 % an den Dienstleistungsexporten einen auffälligen internationalen Wettbewerbsvorteil.Ein weiterer Faktor für die Bedeutung von Finanzzentren ist die wirtschaftspolitische Einstellung gegenüber dem Finanzsektor. Das Spektrum reicht hier von Traditionen, die ihm eine explizit “der Volkswirtschaft dienende” Funktion zuschreiben, bis hin zu Einstellungen, nach denen die Kreditschöpfung makroökonomisch als Wachstumsinstrument angesehen wird. In dieser Tradition ist der Finanzdienstleistungssektor ein eigenständiges Wachstumsinstrument, dessen Produkt- und Verfahrensinnovationen eine steigende Nachfrage von Haushalten und Unternehmen nach finanzieller Vertiefung befriedigen.Nach den Erfahrungen der Finanzkrise werden jedoch die Grenzen dieser wirtschaftspolitischen Einstellung gegenüber dem Finanzsystem deutlich. Daher geht es wohl eher darum, einen “optimalen” finanziellen Vertiefungsgrad zu bestimmen, der wachstumsförderlich ist, dessen negative Rückwirkungen in die Realwirtschaft hinein allerdings begrenzt bleiben. Die Gewichtsverschiebungen in der Weltwirtschaft, der weitere Rahmen für Welthandel und Kapitalverkehr sowie Änderungen in der Technologie von Finanzdienstleistungen werden die bestimmenden Einflussfaktoren auf die Entwicklung von Finanzzentren in den kommenden Jahren sein. Für weitere Bewegung in der Liga der großen Finanzplätze dürfte damit gesorgt sein.—-Ulrich Kater, Chefvolkswirt der DekaBank