Welt im Umbruch
Dr. Robert ErtlVorstand der Bayerischen Börse AG”Welt im Umbruch” heißt eine aktuelle Ausstellung im Stadtmuseum München. Sie beleuchtet die 1920er Jahre als eine Zeit der Gegensätze, voller Hoffnung und Elend. 2020 als Beginn der 2020er Jahre war (und ist) ebenfalls ein Jahr der Hoffnung und irgendwie auch des Elends. Der Hoffnung auf eine baldige Eindämmung der Pandemie und des Elends, weil sie uns nicht loslassen will. Die Digitalisierung hat in den Schulen, den Wohnzimmern und in den Betrieben Einzug gehalten, schneller und unmittelbarer als erwartet. Aufgrund der Pandemie mussten viele Prozesse unter erschwerten Bedingungen und innerhalb kurzer Zeit verändert werden, so auch an der Bayerischen Börse. Aber jede Krise bringt auch Chancen hervor: Die Investoren und Anleger befassen sich so intensiv wie selten zuvor mit der Kapitalanlage. Die Nachfrage nach Online-Seminaren ist ungebremst und das Interesse an Wertpapieren hoch. Die Umsätze an beiden Handelsplätzen der Bayerischen Börse – “Börse München” und “gettex” – liegen deutlich über den Vorjahren. Dass sich die Aktienmärkte weltweit sehr viel schneller erholten als die Wirtschaft, zeigte sich im Verhalten der Anleger. Der Höhenrausch der US-Tech-Titel spiegelte sich auch im Orderbuch wider, waren doch die beliebtesten Aktien an der Börse München im dritten Quartal Apple, Tesla und Amazon sowie die deutsche, aber in den USA gelistete Biontech. Unternehmen, die von der Pandemie profitieren, ob sie nun an einer Impfstoffentwicklung mitwirken oder im Online-Handel tätig sind, wurden bevorzugt. Nicht einmal der “Fall Wirecard”, der die Finanzszene erschütterte, konnte dem Interesse am Aktienhandel etwas anhaben. Das anhaltende Interesse der Bürger an Aktien, die Einsicht, nur mit Sachwerten zumindest einen Vermögenserhalt erzielen zu können, und die Notwendigkeit der institutionellen Investoren, für ihre Kunden Rendite zu erwirtschaften, mögen weitere Gründe für die positive Kursentwicklung sein. Hinzu kommen noch die weltweit angestoßenen Konjunkturprogramme und die extrem lockere Geldpolitik. Die meisten Länderindizes bewegen sich so wieder auf Vorkrisenniveau. Die Börsen stellte die Zeit des Lockdowns, wie viele andere Unternehmen auch, vor große Herausforderungen: Unter veränderten Bedingungen wie flächendeckendes Homeoffice und Beschränkung auf reine Online-Kommunikation musste ein deutlich intensiverer Handel bewältigt und ein hohes Informationsbedürfnis befriedigt werden. Die Bayerische Börse zeigte sich gut vorbereitet, so dass nicht nur der Handel an beiden Börsenplätzen mit einer Vielzahl an Trades und hohen Umsätzen reibungslos und unter Einhaltung der strengen Börsenregularien abgewickelt, sondern auch im Primär- wie Sekundärmarkt Positives gemeldet werden konnte.Ein deutlicher Beleg für die Dynamik des Finanzplatzes München und der jungen Börse gettex war die von Beginn an konstruktive Zusammenarbeit mit den neu entstehenden Brokern. Da diese nur eine geringere Auswahl an Börsenplätzen anbieten, um so ihr günstiges Geschäftsmodell umzusetzen, stellt dies an den Börsenplatz und die Marketmaker hohe Anforderungen an Preisqualität und Systemstabilität. Besonders wichtig ist diese Verlässlichkeit für die jüngst gegründeten Neo-Broker Scalable und Gratisbroker, die ausschließlich gettex als Handelsplatz anbieten. Auch der ebenfalls 2020 angeschlossene Smartbroker nutzt gettex beim 0-Euro-Angebot für seine Kunden. Durch gemeinsame Aktionen mit diesen Brokern kommt gettex dem hohen Interesse nach Wertpapieren insbesondere bei onlineaffinen Kundengruppen nach.Auch das Segment der etablierten Online-Banken wächst auf gettex, wie die Anbindung der Deutschen Kreditbank, besser bekannt unter ihrem Kürzel DKB, sowie der 1822direkt, Tochtergesellschaft der Sparkasse Frankfurt, an gettex belegt. Alle Teilnehmer können grundsätzlich das gesamte Produktuniversum von gettex – einschließlich der Derivate inzwischen mehr als 220 000 Wertpapiere – ihren Kunden ohne Maklercourtage und Börsengebühren von 8.00 bis 22.00 Uhr anbieten. Die Online-Banken, Broker und Neo-Broker entscheiden jeweils selbst, welche Gattungen für ihre Zielgruppe geeignet sind und sie in ihr Programm aufnehmen.Das große Interesse an Wertpapieren und die Anbindung neuer Broker führte in den ersten neun Monaten zu einem Umsatzwachstum bei gettex von 270 % gegenüber dem Vorjahreszeitraum. In diesem Zeitraum steigerte sich das Handelsvolumen der derivativen Wertpapiere – Optionsscheine, Hebel- und Anlagezertifikate über die Emittenten HSBC Deutschland und HVB onemarkets – um 53 %, die Anzahl der Trades um 167 %.Die Börse München ist auf eher langfristige Anleger mit höherem Informations- und Servicebedarf ausgerichtet, denen sie die breite Produktpalette einer Börse zur Verfügung stellt: 25 000 Wertpapiere, darunter über 5 200 Aktien aus dem Ausland und fast 600 aus Deutschland. Die Kursfeststellung erfolgt nach dem Referenzmarktprinzip und orientiert sich nach dem jeweils liquidesten Handelsplatz. Außerdem finden Anleger mehr als 5 000 aktiv gemanagte und passive Fonds sowie fast 14 000 Anleihen – darunter über 5 000 Fremdwährungsanleihen. Auch die Börse München profitiert vom starken Interesse der Anleger an Wertpapieren. Die Börse München legt Wert auf eine enge und partnerschaftliche Zusammenarbeit mit Banken, Sparkassen und Genossenschaftsbanken. In der Praxis heißt das, Veranstaltungen vor Ort gemeinsam durchführen – vom Bayerischen Wald bis an die Ostsee. Außerdem werden in normalen Zeiten Anleger und Berater regelmäßig in die Börse München am Karolinenplatz zu Vorträgen und Veranstaltungen eingeladen. Information aus erster Hand ist ein wichtiger Baustein zum Anlegerschutz. Um trotz der strengen Hygienevorschriften und Abstandsregelungen den Kontakt zu Beratern wie Kunden aufrechtzuerhalten, finden die Vorträge – z. B. mit Robert Halver von der Baader Bank über volkswirtschaftliche Themen oder Norbert Betz, dem Leiter der Handelsüberwachung, über “Börsenpsychologie” – nun ausschließlich online statt. Immer in Zusammenarbeit mit einem Kreditinstitut, das seine Kunden einlädt und dessen Berater zusätzliche Informationen erhalten. Auch unsere Fachbuchreihe, die auf Wunsch an Kreditinstitute zur Weitergabe an ihre interessierten Kunden kostenlos versandt wird, haben wir während Corona um eine weitere Ausgabe ergänzt: Nach “Faszination Börse” (2016), “Die Macht der Dividende” (2017), “Psychofallen an der Börse” (2018), “Nachhaltig investieren” (2019) erscheint im Oktober 2020 “Die wichtigsten Indikatoren – wie Sie Börsenkurse bewegen”. Die Coronakrise macht sich auch im Primärmarkt deutlich bemerkbar: Die Unternehmen benötigen zusätzliches Kapital, um die Krise bewältigen zu können. Die Bundesrepublik Deutschland hat zur Finanzierung der Hilfsmaßnahmen eine Fülle an Anleihen emittiert und der Anfang September herausgegebene und auf ein nachhaltiges Interesse gestoßene erste Green Bond wird von vielen Kommentatoren als Startschuss für weitere nachhaltige Anleihen interpretiert. Darüber hinaus nutzen Unternehmen die günstige Zinssituation und die hohe Liquidität zur Ausgabe neuer Bonds.Das 2005 gegründete Mittelstandssemgent m:access verzeichnete 2020 mit der Abo Wind AG, der Rubean AG sowie der jüngst hinzugekommenen Beno Holding AG bisher drei neue Unternehmen. In m:access benötigen die Unternehmen nur eine Bilanzierung nach HGB, müssen sich aber einmal jährlich in einer Fachkonferenz den Investoren stellen. Diese findet momentan online statt – organisiert von der Börse München. 2019 waren acht und 2018 neun Neuzugänge zu vermelden. Die Mischung aus niedrigen Kosten und hoher Transparenz für die Börsenzulassung hat sich durchgesetzt, wie dieser rege Zulauf beweist.Insgesamt bringen die inzwischen mehr als 60 Unternehmen aus Deutschland, Österreich, Schweiz und den Niederlanden etwa 15 Mrd. Euro an Marktkapitalisierung auf die Waage und beschäftigen mehr als 30 000 Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Wie intensiv die Mittelständler den Kapitalmarkt nutzen, beweisen die mehr als 100 Kapitalerhöhungen, die sie bisher mit Erfolg durchgeführt haben. Damit Privatanleger, Investoren und die Unternehmen eine Benchmark haben, gibt es seit Ende 2019 einen eigenen All Share Index zu m:access, der auf der Website der Börse München zu finden ist. Mit den beiden Börsenplätzen gettex und Börse München sowie dem agilen Primärmarkt m:access ist die Bayerische Börse den Herausforderungen vor, während und nach der Pandemie bestens gewachsen. Die Vorteile von gettex, die schnelle und günstige Ausführung über die Baader Bank bei Aktien, Anleihen, Fonds und ETFs, sowie das einzigartige Modell, dass die Emittenten – HVB onemarkets und HSBC Deutschland – bei derivativen Wertpapieren direkt als Marketmaker fungieren, hat sich durchgesetzt. Gerade das stark wachsende Segment onlineaffiner Anleger setzt auf Börsenplätze wie gettex. Mit ihrem vielfältigen Informationsangebot, der wettbewerbsfähigen Kursfeststellung nach dem Referenzmarktprinzip und der engen Zusammenarbeit mit den Kreditinstituten bewährt sich die Börse München nach wie vor. Mit m:access hat sich überdies in München die Börse für den Mittelstand etabliert. Alles in allem ist München so auch in der Krise ein Anker für die Aktienkultur!