Wer jetzt nicht handelt, handelt fahrlässig

Die prosperierende Wirtschaft der Eurozone stößt das Fenster für Reformen weit auf - doch vor allem Deutschland zögert

Wer jetzt nicht handelt, handelt fahrlässig

Knapp anderthalb Jahre ist es her, dass Europa in den Abgrund geblickt hat. Mit dem für viele immer noch schockierenden Brexit-Votum war der europäische Einigungsprozess auf dem Tiefpunkt angekommen. Angeheizt vom britischen Alleingang trat und tritt auch in anderen Ländern der Wunsch nach einer Rückbesinnung auf den Nationalstaat offen zutage. Zwar blieb der ganz große Wahlunfall aus – doch in den Niederlanden, in Österreich, in Frankreich und auch in Deutschland war der Denkzettel für das Establishment spürbar. Am Ende blieben die gemäßigten Kräfte an der Macht. Dennoch sind damit die Europäische Union und der gemeinsame Währungsraum keinesfalls zukunftssicher. Im Gegenteil: Wird jetzt nicht gehandelt, könnte die nächste Krise der europäischen Institutionen für noch stärkere Verwerfungen sorgen als zuletzt.Bei einem ehemals großen Reformhemmnis kommt der Wind nun klar von hinten: Die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen sind so gut wie lange nicht – vielleicht sogar schon wieder so gut, dass dem ein oder anderen politischen Akteur das rechte Problembewusstsein abhandenkommt. Das dritte Jahr in Folge dürfte das Bruttoinlandsprodukt (BIP) um rund 2 % wachsen. Ehemalige Krisenstaaten wie Spanien, Irland und mit Abstrichen auch Portugal stehen an der Spitze der Bewegung. Zudem kommt das Schwergewicht Frankreich langsam ins Rollen – und der deutsche “Tanker” hält konjunkturell ohnehin weiter Kurs.Verantwortlich hierfür sind auch die strukturellen Anpassungen der Nachkrisenjahre: Die Liberalisierung des Arbeitsmarktes war zwar für viele Menschen mit tiefen Einschnitten verbunden. Letztlich bilden sie aber ebenso das Fundament für den aktuellen Aufschwung wie das immense geldpolitische Eingreifen der Europäischen Zentralbank (EZB). Und selbst die “Reförmchen” in Italien, etwa mit Blick auf den langsam auf dem Wege der Besserung befindlichen Bankensektor, tragen zum Aufklaren des Gesamtbildes bei. Zusammengefasst: Die wirtschaftliche Lage ist gut und auch deutlich besser als die Stimmung. Aber das dürfte kaum reichen.Nach wie vor bestehen erhebliche Mängel, die bislang nicht angegangen wurden. Wo institutionelle Lösungen nötig sind, wurde vieles mit einem Mehr an Bürokratie überdeckt – exemplarisch dafür stehen die Themen Unternehmensbesteuerung oder Außenpolitik. Doch der Kitt ist brüchig und unter ihm lauern die potenziellen Keimzellen der nächsten Krise. Exogene Schocks, eine aus anderen Teilen der Welt “importierte” Rezession oder eine populistische Regierung in einem wichtigen EU-Land – all dies könnte dafür sorgen, dass das nur mühsam geflickte Kartenhaus europäische Einigung wieder bedenklich zu wackeln beginnt oder am Ende noch vollständig in sich zusammenfällt. Ideen gibt esAn Ideen mangelt es freilich nicht. Ob EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker oder Frankreichs Staatschef Emmanuel Macron – Visionen zur Zukunft des Kontinents liegen zur Genüge auf dem Tisch. Doch egal ob Junckers “neuer Wind in den Segeln” mit Euro und Schengenzone für alle oder Macrons “Neugründung Europas” mit einem gemeinsamen Finanzminister und eigenem Budget: Im Kern zielen alle Vorschläge auf eine weitere Vertiefung der Integration. Auch deshalb reagierten deutsche Politiker zunächst mit Skepsis. Die potenzielle Regierungsmannschaft weiß, dass der Bürger etwa beim heiklen Thema der Vergemeinschaftung von Schulden äußerst sensibel reagiert.Aus Investorensicht ist es ebenfalls angeraten, die hehren Ziele einem Realitätscheck zu unterziehen. Denn am Ende geht es darum, nicht der idealen Utopie hinterherzuträumen, sondern abzuklopfen: Wie können die vorherrschenden Risiken der Instabilität minimiert werden? Auf welchen Feldern ist die beste Lösung ein weiteres Zusammenwachsen und wo ist der einzelne Nationalstaat effizienter? Müssen wirklich sämtliche EU-Länder einem Takt folgen, oder ist in manchen Punkten ein Europa der zwei Geschwindigkeiten die praktikablere Lösung? Und am Ende: Für welche Maßnahmen gibt es in der EU oder im Euroraum überhaupt qualifizierte Mehrheiten? Blickt man auf die Stimmung in Polen, Ungarn oder auch Teilen Italiens, scheint eine noch tiefere Integration, zumindest für den Moment, äußerst unwahrscheinlich. Kein sichtbarer MehrwertDer Fokus sollte deshalb selektiv auf die größten Schwächen gelegt werden. Geldpolitik, Wettbewerbsbehörde und Bankenaufsicht haben deutlich gemacht: Integration ist dort gut, wo supranationale Interessen vertreten werden müssen. In vielen anderen Bereichen, etwa bei der Akzeptanz für überbordende EU-Verordnungen, ist das Überstülpen eines Brüsseler Zentralstaats krachend gescheitert. Der Brexit und das Wiedererstarken nationaler Kräfte sind auch Ausdruck dieser Unzufriedenheit mit dem bürokratischen Ungetüm EU, das für die Bürger keinen sichtbaren Mehrwert bietet.Ein Aufeinander-zu-Bewegen ist dort ratsam, wo eine sinnvolle Weiterentwicklung des gemeinsamen Wirtschaftsraums möglich ist. Das kann durchaus auch bedeuten, dass einzelne Länder auf dem Reformweg vorweggehen und andere, nach Schaffung der Voraussetzungen, in ihrem Tempo folgen.Eine länderübergreifende Arbeitslosigkeitsversicherung oder eine einheitliche Körperschaftsteuer – und damit auch die von Macron geforderte Angleichung der Besteuerung internationaler Großkonzerne: Für diese Themen dürfte sich nicht nur eine breite Mehrheit finden, sie sind gleichzeitig verhältnismäßig schnell zu implementieren. Und wenn sie zur weiteren Stabilisierung der Märkte auf dem Kontinent beitragen, könnten sich internationale Investoren sicherlich auch mit einer klar zweckgebundenen Anleihe der EU-Kommission anfreunden. Ausgestaltung und Realisierung dürften sich in diesem Punkt allerdings deutlich diffiziler gestalten.Damit sich überhaupt etwas bewegt, ist vor allem Deutschland gefragt. Jedoch war von Kanzlerin Angela Merkel bis dato wenig zu hören. Das dürfte nicht nur an der ungeklärten Koalitionsfrage, sondern auch an der neuen französischen Forschheit liegen. Der Macher Macron ist eben kein Zauderer Hollande. Renaissance erforderlichViele der Vorschläge aus dem Elysée-Palast sind in der Bundesrepublik dann auch umstritten. Aber ohne eine Renaissance der Reformachse Paris-Berlin wird es nicht gehen. Deutschland muss den Ball aufnehmen und eigene Alternativen entwickeln. Die vorherrschende “Vogel-Strauß”-Haltung schadet mittelfristig nicht nur dem Investitionsklima im Euroraum, sie bremst auch den europäischen Einigungsprozess als Ganzes.Das Fenster für Reformen steht zwar so weit offen wie lange nicht. Aber die Zeit drängt, nach den gescheiterten Jamaika-Sondierungen mehr denn je. Da 2017 durch die permanenten Wahlkämpfe für die institutionelle Neuordnung als verloren gelten darf, wird 2018 zum Jahr der Entscheidung. Die vorteilhafte Mixtur aus europafreundlichen Regierungen und konjunkturellem Rückenwind kann sich schon 2019 – im Jahr der nächsten Europawahl – wieder eintrüben. Abwarten ist fahrlässigEin weiteres Abwarten ist fahrlässig. Denn ein an den sinnvollen Stellen reformiertes und punktuell integriertes Europa schlägt nicht nur die Brücke zwischen konjunkturellem Wohlergehen der Gemeinschaft und gleichzeitiger Wahrung der nationalen Identität. Ein stabiler, prosperierender Wirtschaftsraum ist auch für die Kapitalmärkte von hoher Wichtigkeit. Werden also die angesprochenen Punkte adressiert, dürfte auch für internationale Investoren in den nächsten Jahren an der Eurozone kein Weg vorbeiführen.—Jens Wilhelm, Vorstandsmitglied von Union Investment