Who cares wins
Alexandros ChatzinerantzisPartner und Head of Dispute Resolution Division Germany bei Linklaters LLPDr. Julia GrothausPartnerin im Bereich Dispute Resolution bei Linklaters LLPWährend in Deutschland kontrovers über einen nationalen Alleingang in Bezug auf unternehmerische Sorgfaltspflichten in der Lieferkette diskutiert wird, schreitet die Entwicklung auf EU-Ebene voran: Ende Oktober hat die EU-Kommission unter Federführung von Justizkommissar Reynders eine öffentliche Konsultation zu Lieferketten und nachhaltiger Unternehmensführung eingeleitet. Deren Ergebnisse sollen in einen Gesetzgebungsvorschlag einfließen, den die EU-Kommission im Jahr 2021 vorlegen will. Währenddessen ist nachhaltiges Lieferkettenmanagement für international tätige Unternehmen längst Realität. In zahlreichen Ländern wurden bereits verbindliche Regelungen zu Sorgfaltspflichten eingeführt, andere stehen kurz davor: In Europa sind insbesondere der UK Modern Slavery Act, Frankreichs Loi de Vigilance und das niederländische Gesetz gegen Kinderarbeit zu nennen. Die Schweizer werden Ende November über eine Volksinitiative abstimmen, welche den Unternehmen weitreichende Sorgfaltspflichten einschließlich einer Haftung mit Beweislastumkehr auferlegen will. Außerhalb Europas gibt es etwa in Kalifornien und Australien entsprechende Gesetzgebung, Kanada ist auf dem Weg dorthin. Die verschiedenen Regelungen zielen darauf ab, Menschenrechtsverletzungen entlang von Lieferketten – insbesondere Sklaverei und Menschenhandel – zu erkennen, zu verhindern und zu beseitigen. Hinzu kommen die CSR-Richtlinie und die zum Jahreswechsel in Kraft tretende EU-Konfliktmineralienverordnung. Doch nicht nur die Gesetzgeber treiben die Transformation voran. Immer vehementer fordern Kunden, Lieferanten, Investoren, NGOs und Endverbraucher von Unternehmen Informationen und Nachweise darüber, dass ihre Lieferketten nicht zu Menschenrechtsverletzungen und Umweltschäden beitragen. Dadurch ist sukzessive das Bewusstsein für ökologisch und sozial verantwortliches Handeln in der deutschen Wirtschaft gestiegen. Immer mehr Unternehmen – von kleinen Start-ups bis hin zu großen Konzernen, vom Modeunternehmen bis zum globalen Nahrungsmittelkonzern – setzen verstärkt auf Nachhaltigkeit als Geschäftschance und kommunizieren dies nach außen. Selbst in Branchen, die historisch Berührungsängste mit dem Thema “Umweltschutz” hatten, liegt Nachhaltigkeit heute im Trend. Gleichzeitig verdeutlichen diverse Klageverfahren in den verschiedenen Jurisdiktionen die Notwendigkeit, sich der Thematik anzunehmen. Das Krisenjahr 2020 hat die Robustheit von Lieferketten durch die Covid-19-Pandemie, den Brexit und den andauernden Handelskonflikt zwischen China und den USA weiter auf die Probe gestellt und die breite Bevölkerung sensibilisiert. All diese Entwicklungen zeigen: Die globale Wirtschaft befindet sich in einem unumkehrbaren Transformationsprozess. Weniger Milton Friedman, mehr “who cares wins” ist die Marschroute. Die unübersichtliche Gesetzeslage und weltweit verästelte Lieferketten stellen Unternehmen allerdings vor große Herausforderungen. Um den sich dynamisch entwickelnden Anforderungen gerecht zu werden, sollten Unternehmen Systeme und Verfahren einführen, die sicherstellen, dass sie Risiken in ihren Lieferketten aufdecken, darauf reagieren und diese beseitigen oder melden können. Über die theoretischen Schritte besteht weitgehende Einigkeit: Ausgangspunkt jedes nachhaltigen Lieferkettenmanagements ist die Informationsbeschaffung. Es gilt, den Lebenszyklus der eingekauften Produkte von der Rohstoffgewinnung bis zur Entsorgung sowie die eingekauften Dienstleistungen nachzuvollziehen. Aus wie vielen und welchen Lieferanten besteht die Lieferkette? Was liefert wer von wo aus zu? Wie transparent sind die Umstände der Produktion und der Dienstleistungen? Ein Teil dieser Informationen liegt Unternehmen regelmäßig bereits im Einkauf oder Qualitätsmanagement vor. Fehlende Informationen müssen entlang der Kette eingeholt werden. Im zweiten Schritt ist zu analysieren, wie sich die einzelnen Lieferketten an den jeweiligen Produktionsstandorten auf Umwelt und Mensch auswirken. Zu prüfen sind u.a. produktbezogene Vorgaben (z.B. für Holz, Konfliktmineralien), Menschenrechte, Arbeitsbedingungen, Gesundheit und Sicherheit, Umweltauswirkungen und Datenschutz. Sinnvoll ist eine typisierende Betrachtungsweise. Die ermittelten Risiken sind dabei anhand ihrer Bedeutung und Eintrittswahrscheinlichkeit zu bewerten. Zudem sind auch die potenziellen Auswirkungen auf das prüfende Unternehmen in den Blick zu nehmen, etwa die Abhängigkeit von den jeweiligen Lieferanten und die wirtschaftlichen Konsequenzen (staatliche Sanktionen, zivilrechtliche Haftung und Reputationsschäden). Sind die relevanten Risiken identifiziert, müssen geeignete Maßnahmen zur Beseitigung bzw. Risikobegrenzung festgelegt und implementiert werden. Dazu kommen u.a. Lieferantenkodizes, Schulungen, technische Unterstützung, Know-how-Transfer und Whistleblowing-Hotlines entlang der gesamten Lieferkette in Betracht. In Zukunft werden zudem vermehrt Big Data, künstliche Intelligenz und die Blockchain-Technologie das Management komplexer Lieferketten erleichtern. Darauf aufbauend kann durch Selbstauskünfte der Lieferanten, interne und unabhängige Audits vor Ort sowie Verbesserungs- und Kontrollmanagement die Einhaltung der Standards entlang der Lieferkette gesichert werden. Überprüfende Maßnahmen sind vor allem dort nötig, wo die Schadenswahrscheinlichkeit besonders hoch ist. Schließlich sollten Unternehmen identifizierte Risiken, deren Analyse sowie ergriffene Gegenmaßnahmen und Änderungen in der Unternehmensführung dokumentieren und darüber berichten. Für große, kapitalmarktorientierte Unternehmen bestehen im Anwendungsbereich der CSR-Richtlinie Berichtspflichten zur gesellschaftlichen Unternehmensverantwortung. Aber auch ohne gesetzliche Verpflichtung veröffentlichen viele Unternehmen aus gutem Grund Nachhaltigkeitsberichte. Die proaktive Bekanntmachung von ESG-Faktoren beugt Reputationsrisiken vor, kann durch eine positive Abgrenzung von Konkurrenzprodukten zu Wettbewerbsvorteilen führen und verschafft Zugang zu besseren Finanzierungsmöglichkeiten. Zudem fördert das Reporting unternehmensintern das Bewusstsein für nachhaltiges Handeln und wird so zum strategischen Management- und Steuerungsinstrument. Eine sorgfältige, rechtssichere Dokumentation hilft, um sich gegen Haftungsrisiken abzusichern, und gehört etwa in Rohstoff-Lieferketten bereits zum Standard.Was moralisch und theoretisch überzeugt, ist in der Praxis jedoch nicht immer einfach umzusetzen. So sind Lieferketten häufig global und komplex vernetzt. Große Unternehmen haben zudem regelmäßig einige Tausend Direktlieferanten, häufig aus unterschiedlichsten sozioökonomischen Kontexten. Unternehmen bleibt daher in der Praxis nichts anderes übrig, als pragmatisch zu starten und schrittweise vorzugehen. Dies ist zeit- und personalintensiv und für alle Unternehmen eine enorme Herausforderung, da das klassische Lieferkettenmanagement um eine Vielzahl von Themen erweitert wird. Soweit sich Unternehmen bereits eingehend damit auseinandersetzen, beschäftigt das Thema nicht selten ganze Abteilungen.Besondere Probleme bereiten in diesem Zusammenhang v.a. Maßnahmen, die über die Direktlieferanten hinausgehen. In der Regel wenden sich Unternehmen zuerst an ihre unmittelbaren Zulieferer, mit denen sie vertraglich verbunden sind. Oft ergibt aber die Risikoanalyse, dass die kritischen Handlungen auf den nachfolgenden, weiter entfernten Ebenen erfolgen. Hier ist zu überlegen, wie sich die Unterlieferanten einbinden lassen. Direktlieferanten verweigern allerdings häufig die Offenlegung ihres eigenen Zulieferernetzwerks, da sie fürchten, ihren Platz in der Lieferkette zu verlieren. Dem kann in geeigneten Fällen durch Unterlassungserklärungen begegnet werden, mit denen Unternehmen zusichern, ihre Zulieferer nicht zu umgehen. Solche Erklärungen können jedoch schwierige wettbewerbsrechtliche Fragen aufwerfen. Alternativ kann versucht werden, die Direktlieferanten zu verpflichten, bei ihren Vorlieferanten vergleichbare Standards anzusetzen. Haben einkaufende Unternehmen aufgrund von begrenzten Umsatzvolumen nicht genügend Hebelwirkung, um von ihren Lieferanten Transparenz im Hinblick auf die Vorlieferanten einzufordern, kommen Brancheninitiativen in Betracht.Aber auch im Hinblick auf Direktlieferanten gibt es Herausforderungen: Praktische Schwierigkeiten bereiten etwa Lieferantenkodizes. Sie bestehen in der Regel aus vorformulierten Klauseln für eine Vielzahl von Verträgen und unterliegen damit als allgemeine Geschäftsbedingungen besonderen rechtlichen Anforderungen. Unwirksamkeitsrisiken können sich beispielsweise ergeben, wenn der Zulieferer verpflichtet wird, Lieferantenkodizes oder einzelne Regelungen an Dritte weiterzugeben. Dies gilt auch, wenn in den Lieferantenkodizes weitreichende Überprüfungsrechte enthalten sind oder sie verschuldensunabhängige oder pauschalisierte Schadenersatzpflichten oder Kündigungsrechte für geringfügige Vertragsverletzungen vorsehen. Darüber hinaus ist in der Praxis darauf zu achten, dass die Lieferantenkodizes nicht durch konfligierende AGBs des Zulieferers ausgehebelt werden. Allen praktischen Schwierigkeiten zum Trotz führt an einem nachhaltigen Lieferkettenmanagement auf Dauer jedoch kein Weg vorbei.