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Wie Innenstädte trotz Rückzug des Handels lebendig bleiben

Von Thomas List, Frankfurt Börsen-Zeitung, 10.12.2020 Die Innenstädte veröden: Fast überall sind die immer gleichen Filialen großer Textilketten zu finden, während inhabergeführte Geschäfte aussterben. Verschärft wird die Lage des stationären...

Wie Innenstädte trotz Rückzug des Handels lebendig bleiben

Von Thomas List, Frankfurt Die Innenstädte veröden: Fast überall sind die immer gleichen Filialen großer Textilketten zu finden, während inhabergeführte Geschäfte aussterben. Verschärft wird die Lage des stationären Einzelhandels durch den Trend zum Onlinehandel. Und jetzt machen vielerorts auch noch die Karstadt- und Kaufhof-Warenhäuser zu, die häufig an zentraler Lage in den Fußgängerzonen stehen. Als wäre das nicht genug, kommt die Coronakrise als Frequenzkiller dazu. Die Laufkundschaft bleibt aus. Es überrascht daher nicht, dass die Einzelhandelsmieten in den Großstädten seit 2017 praktisch stagnieren und nach Prognosen nicht nur in diesem, sondern auch im kommenden Jahr sinken werden. Positive SeitenEs steht schlecht um den Einzelhandel in den Innenstädten, doch die Entwicklung hat auch eine positive Seite. Tobias Nöfer, Vorsitzender des Architekten- und Ingenieurverein zu Berlin-Brandenburg (AIV), weist darauf hin, dass Städte im Laufe der Zeit schon viele Veränderungen erlebt hätten. Wenn jetzt zu Lasten des Einzelhandels wieder mehr Raum für Wohnen bleibe, sei dies möglicherweise keine schlechte Entwicklung. “Es wird ja seit langem argumentiert, dass wir das Wohnen wieder in die Innenstädte bringen müssen, damit sie wieder lebendig werden.”Ähnlich argumentiert auch Dirk Wichner, Leiter des Bereichs Retail Leasing bei JLL in Deutschland: Er erinnert daran, dass der Einzelhandel erst seit einigen Jahrzehnten Hauptnutzer der Innenstädte sei. Einkaufen ist demnach Teil der Lebenseinstellung. Es gab nur einen Vertriebsweg, nämlich den stationären Einzelhandel. Bei immer weiter steigender Kaufkraft habe sich der Handel in den Innenstädten überproportional ausgebreitet. “Er ist sowohl vertikal gewachsen, Stichwort Mehrgeschossigkeit, als auch horizontal bis in die Seitenstraßen. Rechtsanwälte und kleinere Unternehmen sind in den Gebäuden nach oben gedrückt worden, die wiederum haben die Wohnnutzung rausgedrückt.” Dies ändere sich jetzt. Die Konsumgesellschaft werde von der Erlebnisgesellschaft abgelöst. “Der Einzelhandel beginnt, das Einkaufserlebnis wieder zu zelebrieren.” Außerdem entzerrten sich Einkaufserlebnis und Inbesitznahme. “Wir kaufen mit allen Sinnen, geliefert wird später nach Hause.” Verkauf werde wieder Verführung. “Das passiert nicht mehr auf vier Etagen, sondern im Erdgeschoss wird die Ware so angepriesen, dass der vorbei ziehende Passantenstrom das wahrnimmt, reingeht, sich verführen lässt und kauft. Das wird der Megatrend der nächsten zehn Jahre sein.”Architekt Nöfer erinnert daran, dass die Innenstädte mit ihrem Laufpublikum soziale Orte seien, wo man sich trifft. “Fällt das weg, gilt das auch für diese zufälligen Begegnungen und Menschen bewegen sich im Netz nur noch in ihrer eigenen Blase. Das ist ein riesiges soziales Problem.” Nöfer befürchtet, dass der Handel viel schneller aus den Innenstädten verschwindet, als er durch Wohnen oder andere Funktionen ersetzt werden kann. “Wenn jetzt nicht politisch gehandelt wird, dann droht die Innenstädte eine Schockwelle zu erfassen mit dramatischen Folgen.” Nöfer fordert staatliche Eingriffe, damit der Internethandel nicht kostengünstiger bleibe als der stationäre Einzelhandel. Die zunehmende Zahl an Lieferdiensten verstopften die Straßen und gefährdeten Radfahrer. Nicht zuletzt aus ökologischen Gründen sei dies nicht zu verantworten. Die großen Internethändler sollten stattdessen Verteilerzentren in den Innenstädten und Stadtteilen aufbauen und die Kunden veranlassen, ihre Waren dort abzuholen. “Diese Verteilerzentren könnten dann auch noch andere Dienste anbieten und damit zu einer Art Tante-Emma-Laden werden.” Im Kampf gegen die Verödung der Innenstädte seien auch die Kommunen gefragt. “Sie können den Einzelhandel in den Gewerbegebieten am Stadtrand verhindern.” Viele Städte hätten das zugelassen. Die Gefahr sei groß, dass das wieder passiere und Städte nicht entschlossen eingriffen, warnt Nöfer. Gegen die Filialisierung sollten die Industrie- und Handelskammern aktiv werden und die Zusammenarbeit der Einzelhändler fördern, sagt der Architekt. Vermieter sollten die Vitalität der Innenstädte im Blick haben und langfristig an individuelle Händler vermieten. Bisher geschieht dies allerdings nicht. So ist die Zahl der (kleinbetrieblichen) Geschäfte von 2010 bis 2019 in Deutschland um 55 % zurückgegangen, während es bei den Filialisten ein Plus von 16 % gab. Der Filialisierungsgrad in den Einkaufsstraßen liegt meist über 90 %.Für den Erhalt großer Gebäude wie ehemalige Warenhäuser spricht für Nöfer der Erhalt der “grauen Energie”, also Stahl und Beton, um diese für einen Neubau nicht nochmals produzieren und dafür entsprechend CO2 einsetzen zu müssen. “Ein großes Kaufhaus ist durch die Geschosshöhe und die auf hohe Lasten ausgelegte Statik vielfältig nutzbar. Bei zu wenig Licht bricht man einen Innenhof rein und kann das Gebäude als Bürogebäude nutzen.” Auch Wohnen sei grundsätzlich möglich. In Neumünster wurde ein Drittel der Fläche eines Kaufhauses abgerissen. Auf dem renovierten Rest richtete der Eigentümer des Gebäudes, die Sparkasse Südholstein, ihren Hauptsitz ein. Weitere Flächen belegen die Stadtbibliothek, Nahversorger und auf dem Dach Gastronomie. Ein umfassendes KonzeptUm eine Stadt mit ihrer Innenstadt als Zentrum wirklich zukunftsfähig zu machen, braucht es ein umfassendes Konzept. Darüber hat sich das Architektur- und Planungsbüro Caspar Schmitz-Morkramer in seiner Studie “Retail in Transition” Gedanken gemacht. Im Sinne des Erlebens – und nicht nur des Konsumierens – bringen sich Menschen persönlich im Produktionsprozess ein, verbringen ihre Freizeit dort, treffen andere Menschen. Wer nicht in der Innenstadt wohnt, der nutzt vielfältige, teils kostenlose Verkehrsmittel, um dorthin zu gelangen.