FINANZEN UND TECHNIK - IM GESPRÄCH: CHRISTIAN RIECK

"Wir bezahlen für unsere Unvernunft"

Wirtschaftstheoretiker sieht Fondsvertrieb vor Umbruch - Bislang aber wenig Anzeichen für einen Wandel

"Wir bezahlen für unsere Unvernunft"

Längst können private Sparer nur noch online ihre Geldanlage steuern und Fonds und Wertpapiere auswählen – doch auf ein Gespräch mit einem Finanzberater wollen die meisten Anleger nicht verzichten. Mit dem Einzug neuer Technologien könnte sich das ändern, sagt Wirtschaftsprofessor Christian Rieck.Von Jan Schrader, FrankfurtDie technischen Möglichkeiten für einen Umbruch im Fondsgeschäft sind bereits da. Niemand muss mehr in eine Bank- oder Sparkassenfiliale gehen, um Wertpapiere zu kaufen. Ein Onlinedepot reicht. Die Informationen gibt es im Netz. Und mit börsengehandelten Indexfonds (ETF) etwa lässt sich schon mit einer Handvoll an Produkten sehr günstig ein breit investiertes Portfolio zusammenstellen. Wer Hilfe braucht, nutzt eine automatisierte Beratung.So könnte es sein, doch nur wenige Sparer steuern ihre Geldanlage derart selbstbestimmt. Die meisten Anleger fühlen sich bei Finanzfragen unwohl und lassen sich bei einer Bank oder Sparkasse beraten – von einem Menschen. Diese Dienstleistung hat bekanntlich ihren Preis. Greifen die Sparer zu Produkten, die der Berater empfiehlt, zahlen sie Gebühren an die Fondsgesellschaft, die ihrerseits wieder Provisionen an die Vertriebspartner zahlt. Das Modell hat sich in der Praxis etabliert. In Deutschland sammelten die Fondsgesellschaften für Publikumsfonds zuletzt so viele Mittel ein wie selten zuvor. Meist ist dabei die Empfehlung des Bankberaters ausschlaggebend.Bereits in rund einem Jahrzehnt könnten sich die Gewichte aber deutlich verschoben haben, sagt Zukunftsforscher Christian Rieck. Der Fondsverkauf dürfte dann viel stärker im Internet stattfinden, begleitet von neuen Technologien, vermutet der Finanzexperte und Wirtschaftstheoretiker der Frankfurt University of Applied Sciences, der immer wieder Vorträge zur Zukunft der Vermögensverwaltung gibt. Bislang brauche der Anleger noch einen Anstoß. Der Berater erhalte also Geld dafür, dass er dem Anleger auf die Pelle rücke. “Wir bezahlen für unsere Unvernunft”, sagt Rieck. Das Modell stuft der Referent des Zukunftsinstituts als sinnvoll ein, würden sich viele Menschen doch überhaupt nicht um ihre Finanzen kümmern, sofern kein Einwurf von außen komme. Doch könne sich das Verhalten der Sparer im Zuge neuer Technologien ändern, mutmaßt er. Damit mehr Menschen über den Computer ihre Finanzanlagen regelten, müssten aber noch mehr Technologien Hand in Hand gehen und die Sparer ihr Verhalten ändern. Bestehende Angebote reichten noch nicht aus.In der Finanzbranche herrscht Uneinigkeit darüber, wie stark sich wohl das Anlegerverhalten ändern könnte – das zeigt insbesondere die Diskussion um die Zukunft der ETF, die zwar auf ein starkes Wachstum zurückblicken, aber von privaten Sparern nur selten verwendet werden. In den Depots der Direktbanken finden sie sich zwar bereits (siehe Grafik), doch haben sie den Durchbruch noch nicht erreicht. Im Massenvertrieb über die Banken und Sparkassen spielen sie kaum eine Rolle. Genutzt werden ETF überwiegend von institutionellen Anlegern.Entscheidend sei die Vertriebsstruktur, sagt Eric Wiegand von der Deutschen Asset & Wealth Management, der Fondstochter der Deutschen Bank. Aufseher dürften den provisionsbasierten Vertrieb künftig etwas zurückdrängen, vermutet der Head of ETP Strategy für die Region Europa, Naher Osten und Afrika. Auch wachse der Markt der unabhängigen Vermögensverwalter, was andere Kostenmodelle mit sich bringe. Skeptisch äußert sich indes Heike Fürpaß-Peter, die für Lyxor als Director und Head of Public Distribution den ETF-Verkauf in Deutschland und Österreich mitverantwortet. Die Nutzung dieser Produkte setze Finanzwissen voraus, über das nur wenige Anleger verfügten. Gleichwohl werde das Segment wachsen. Robo-Advisor enttäuschenAuch Zukunftsforscher Rieck bemängelt das Wissen der Anleger. Selbst gebildete Menschen könnten vielfach nicht den Zinseszinseffekt erklären oder Aktien und Anleihen auseinanderhalten. Damit komme den Finanzberatern eine wichtige Rolle zu. Anbieter wie Wealthfront und Betterment in den USA oder Vaamo und FinanceScout24 seien noch nicht weit genug, um eine Beratung durch einen Menschen ersetzen zu können. Die als “Robo-Advisor” gefeierten Anbieter verlassen sich aus seiner Sicht noch zu sehr auf einheitliche Algorithmen, so dass die individualisierte Beratung zu kurz komme. Künftig dürften die Onlinewerkzeuge aber neue Wege finden, um weiteren Kunden gerecht zu werden, etwa durch die Nutzung von Daten aus sozialen Netzwerken. Wie das genau funktionieren könnte, lässt er jedoch offen.Die automatischen Berater seien noch im Entstehen begriffen, sagt er. Wer das Rennen mache, sei noch unklar. Ungewiss sei auch, ob der Nutzen für den Kunden überwiege, schließlich könnte eine Maschine die Datenhoheit zu Ungunsten unbedarfter Nutzer verwenden. Was auch immer komme: Grundsätzlich unterschätzen Geschäftstreibende das Potenzial neuer Technologien, meint der Forscher. So hätten Kamerahersteller das Potenzial der Digitalfotografie nicht gesehen. Auch Amazon und Wikipedia hätten etablierte Geschäftsmodelle marginalisiert.Technische Revolutionen seien aber auch soziale Ereignisse, sagt er. Damit deutet er bereits an, weshalb es bislang keine einheitliche Meinung zur Zukunft des Fondsvertriebs und zur Nutzung von ETF durch private Sparer gibt: Die größte Unbekannte ist der Mensch. Prognosen zum Verhalten dieser Wesen aus Fleisch und Blut sind unsicher.