„Schuldenkrisen fallen nicht vom Himmel“
Im Interview: Carsten Pillath
„Schuldenkrisen fallen nicht vom Himmel“
Carsten Pillath hat im Generalsekretariat des Rates mehr als eine Dekade die Wirtschafts- und Finanzpolitik der EU-Mitgliedsstaaten an zentraler Stelle mit koordiniert. Von 2012 bis 2021 war der Volkswirt in Brüssel als Generaldirektor für Wirtschaft und Wettbewerbsfähigkeit tätig. Anfang 2022 berief Christian Lindner den parteilosen Pillath zum Start der Ampel-Regierung zu seinem Staatssekretär für Europa, Internationales und Finanzmarktpolitik. Ende März 2023 schied der heute 68-Jährige aus dem Ministerium wieder aus und ist heute im Ruhestand. Im Interview blickt Pillath auf den Draghi-Report, die Schuldenregeln und die Funktionsfähigkeit der EU.
Herr Pillath, in Brüssel und Berlin reden derzeit alle von Wettbewerbsfähigkeit und verweisen dabei oft auf den Draghi-Report. Für wie zielführend halten Sie die Ausführungen des früheren EZB-Präsidenten?
Der Draghi-Report ist weder in seinen guten Analysen noch in seinen Rezepten eine Überraschung. Ob er den europäischen Institutionen wirklich als Leitbild dienen wird, darf bezweifelt werden. Es ist eher zu erwarten, dass der Bericht das Schicksal der „Lissabon-Strategie“ teilen wird – falls sich noch jemand daran erinnert. „Whatever-it-takes“ mag man in Krisenzeiten zwar im Rahmen einer Geldpolitik fordern. Die europäische Finanzierung eines minimalen jährlichen Betrages von 750 bis 800 Mrd. Euro zur Stärkung der Wettbewerbsfähigkeit bleibt indes eine Utopie.
Sie haben die Staatsschuldenkrise aus allernächster Nähe erlebt. Mit wie viel Sorge blicken sie aktuell nach Frankreich? Wie groß ist das Risiko einer neuen Schuldenkrise in der Eurozone?
Mir macht Sorge, dass aus der letzten europäischen Schuldenkrise offensichtlich nicht sehr viel gelernt worden ist. Schuldenkrisen fallen nicht vom Himmel, sondern sind das Ergebnis unzureichender geldpolitischer und/oder unzureichender finanzpolitischer Anpassungen. Dass es einen erheblichen Handlungsbedarf in Frankreich gibt - und nicht nur dort -, hat die letzte französische Regierung nun deutlich betont. Ich gehe davon aus, dass dies wohl auch die nächste französische Regierung unterstreichen wird.
Was halten Sie von den reformierten EU-Schuldenregeln, die gerade in die Praxis umgesetzt werden?
Transparenter und klarer sind die Regeln nicht geworden. Sie dürften allerdings die Rolle der Ratingagenturen und Investoren in der Zukunft stärken.
Würden Sie in diesem Zusammenhang eine Reform der deutschen Schuldenbremse befürworten?
Eine Reform ist kein Heilmittel und dürfte auch wenig zusätzlichen fiskalischen Handlungsspielraum eröffnen. Im Gegenteil, sie würde zudem neue Begehrlichkeiten provozieren. Solange der Schuldenstand in Deutschland über 60% liegt, würde ich eine Reform der Schuldenbremse ablehnen.
Ungarn, Rumänien – aber auch die Niederlande, Belgien und Österreich: In immer mehr Ländern gewinnen EU-Skeptiker die Oberhand. Was heißt das für die Funktionstüchtigkeit der EU?
Erstens, die Kosten der Koordinierung und Konsensfindung werden erheblich ansteigen und der Zeitbedarf für Gesetzgebung wird deutlich zunehmen. Zweitens bedarf es einer ehrlichen Analyse der Gründe für die zunehmende Skepsis gegenüber den europäischen Institutionen. Drittens, für die europäischen Institutionen bedeutet es, dass sie sich künftig stärker auf ihre jeweiligen Kernaufgaben beschränken und auf wesentliche Herausforderungen konzentrieren sollten. Nicht alles, was in Brüssel und Straßburg geschieht, gehört dorthin.
Die Fragen stellte Andreas Heitker.