GastbeitragNachhaltigkeit

Multiple Pflichten- und Haftungsvermehrung durch ESG

Die diversen ESG-Vorgaben legen den Unternehmen viele neue Pflichten auf. Die Haftungsrisiken nehmen zu. Der Dokumentationsaufwand bindet Ressourcen, die besser produktiv eingesetzt werden sollen.

Multiple Pflichten- und Haftungsvermehrung durch ESG

Gastbeitrag

Multiple Pflichten- und Haftungsvermehrung durch ESG

Unter den Leitmotiven „Nachhaltigkeit“ und „Environment/Social/Governance“ (ESG) erlässt die EU derzeit viele Vorschriften, z.B. die Richtlinie zur Nachhaltigkeitsberichterstattung der Unternehmen (Corporate Sustainability Reporting Directive (CSRD), den Entwurf einer EU-Lieferkettenrichtlinie (Corporate Sustainability Due Diligence Directive (CSDDD-E)) sowie die Taxonomie-Verordnung zur Quantifizierung der Nachhaltigkeit von Unternehmen und Banken und die daran anknüpfenden Vorgaben der Europäischen Bankenaufsicht (EBA) zur aufsichtsrechtlichen Verteuerung der Finanzierung nicht taxonomiekonformer Unternehmen. Die Regelungen knüpfen an den „Green Deal“ der Kommission an, der „das Naturkapital der Union schützen“ soll. Nachhaltigkeit soll erfasst und gemessen und Leitsatz allen unternehmerischen Handelns werden. Darüber hinaus sollen Investitionen in ESG-konforme Richtung gelenkt und Finanzierungen entsprechend erleichtert oder erschwert werden. Entsprechend soll beispielsweise die CSRD nichts Geringeres als den „Übergang zu einem vollständig inklusiven Wirtschafts- und Finanzsystem im Einklang mit dem Green Deal und den Zielen der Vereinten Nationen für nachhaltige Entwicklung“ bewirken.

Zu viel des Guten

Dies verschiebt die tektonischen Platten, auf denen die EU-Wirtschaft ruht. Nun ist manche neue ESG-Vorgabe nicht nur rechtspolitisch „zu viel des Guten“. Vielmehr unterliegen EU und ESG-Regeln dem rechtlichen Gebot der Verhältnismäßigkeit, und manche der neuen Vorgaben sind unverhältnismäßig. Dabei muss sowohl rechtspolitisch als auch rechtlich präzise argumentiert werden. Denn ein Teil der vielen Regeln dient Klimaschutz und Menschenrechten, also hohen Zielen. ESG-Vorschriften, die den genannten hohen Zielen aber nicht wirklich dienen oder unzweckmäßig oder unverhältnismäßig sind, sollten zurückgeschnitten werden. Dies gilt nicht nur für Kuriositäten in den ESG-Regeln (wie der Pflicht, über die Zahlungsmoral gegenüber Lieferanten oder Lobbytätigkeit zu berichten), sondern für viele Vorgaben im Bereich der Governance („G“).

Inpflichtnahme und Investitionslenkung

Die ESG-Vorgaben haben unterschiedlichste Ansatzpunkte: (1) Die CSRD verpflichtet zur Berichterstattung über „Nachhaltigkeitsaspekte“ in einem Nachhaltigkeitsbericht. Alle „Interessenträger“ sollen hierdurch in die Lage versetzt werden, die „Nachhaltigkeit“ des Unternehmens zu beurteilen. Als „Interessenträger“ stuft die CSRD nicht nur Kapitalgeber, sondern alle „Bürgerinnen und Bürger“ ein, namentlich „Akteure der Zivilgesellschaft, einschließlich Nichtregierungsorganisationen und Sozialpartner, die Unternehmen im Hinblick auf ihre Auswirkungen auf Mensch und Umwelt stärker in die Verantwortung nehmen wollen“. Der Nachhaltigkeitsbericht soll also nicht nur Erkenntnisquelle für Anleger sein, sondern es Dritten aller Art erleichtern, Nachhaltigkeit per privaten Initiativen und Klagen (private enforcement) einzufordern. (2) Die geplante CSDDD ist ein EU-Lieferkettengesetz, geht aber über die Vorgaben des deutschen Gesetzes deutlich hinaus und sieht bei Verstößen ausdrücklich Haftung von Unternehmen und Organen vor. Dabei vertraut der CSDDD-E nicht darauf, dass die Unternehmen angemessene Mittel und Wege finden, die betreffenden Vorgaben einzuhalten, sondern macht organisatorische Vorgaben (Organisationspflicht). (3) Die CSRD verlangt wiederum von den Unternehmen, darüber zu berichten, wie sie sich zur Einhaltung der ESG-Vorgaben (auch der künftigen CSDDD) organisiert haben (Organisationsberichterstattung). (4) Die CSRD verpflichtet die Unternehmen ferner, über ihre Nachhaltigkeitsmaßnahmen und deren (Miss-)Erfolg zu berichten. (5) Nach der CSRD müssen Unternehmen auch über Organisation, Zuständigkeiten und Expertise ihrer Leitungs- und Aufsichtsorgane berichten. Die langen Pflichtenhefte werden durch den Corporate Governance Kodex von April 2022 weiter verlängert. (6) Verstöße führen zu hohen Bußgeldern, bei der CSDDD auch zu deren Veröffentlichung (Ächtung).

(7) Last but not least sehen CSRD und CSDDD-E unternehmensinterne Pflichten vor, die nicht nur Ansprüche der Unternehmen oder ihrer Anteilseigner gegen Geschäftsleitungs- und Aufsichtsorgane nach sich ziehen können. Vielmehr soll die Nachhaltigkeitsberichterstattung „Interessenträgern“ aller Art (NGOs, Betroffene, Gewerkschaften etc.) dabei helfen, bei unterschiedlichsten Verstößen vor Gericht gegen die Unternehmen vorzugehen. (8) Nach Verlautbarungen der Europäischen Bankenaufsicht (EBA) haben Banken und Investoren ESG-Kriterien bei der Kapitalvergabe zu berücksichtigen. Dies betrifft zunächst die internen Abläufe, die Erfassung von Risiken und die Berichterstattung der Kapitalgeber selbst; angekündigt ist aber, dass sich Kapital für Unternehmen und Vorhaben, die nach den Kriterien der TaxonomieVO nicht nachhaltig sind, aufsichtsrechtlich verteuert.

Die beschriebenen Zugriffsweisen sind mithin vielfältig, aufeinander abgestimmt und verstärken einander. Kurz: ESG bringt multiple verbundene Eingriffe in die Unternehmen mit sich.

Schranken der Verhältnismäßigkeit

Nun vernachlässigt die ESG-Diskussion, dass die Vorgaben in Grundrechtspositionen der Unternehmen eingreifen. Solche Eingriffe müssen aber verhältnismäßig sein. Diesem Erfordernis wird ein Teil der ESG-Vorgaben bei näherer Analyse nicht gerecht. Hierfür einige Beispiele:

(1) Die CSRD geht zu weit, wo sie Unternehmen zur Selbstbezichtigung oder zur Bezichtigung von Mitarbeitern zwingt oder wo sie Tatbestände erfasst, die mit Umwelt, Klima und Menschenrechten nichts zu tun haben (z.B. Lobbytätigkeit oder Zahlungstreue gegenüber Lieferanten).

(2) Die Begründung des CSDDD-Entwurfs hält die dortigen Vorgaben für kleinere und mittlere Unternehmen (KMU) für unverhältnismäßig. Wachsen aber Beschäftigten- und Umsatzzahlen, so wachsen auch die Organisationskosten und die Haftung. Sonach trifft das eigene Verdikt der Unverhältnismäßigkeit für KMU auch die Regelungen für große Unternehmen.

(3) Genehmigungen und darauf gestützte Tätigkeiten genießen Bestandsschutz. Es wäre unverhältnismäßig, z.B erteilte Genehmigungen durch überschießende ESG-Sorgfaltspflichten, Verfahrensvorgaben und Klagemöglichkeiten auszuhebeln.

(4) Wo ESG-Vorschriften die „Governance“ (allgemeine Regeltreue) verbessern sollen, ist nicht gegen die hohen Ziele „Umwelt“ und „Menschenrechte“ abzuwägen, sondern gegen die jeweils betroffenen Schutzgegenstände. Nun entfaltet der Aufwand, der in Compliance-Management-Systeme (CMS) gesteckt wird, nach den Erkenntnissen der Empirie nur beschränkte Wirkung. Da CMS empirisch vielfach verpuffen und es unmöglich ist, die Wirkung konkreter CMS-Maßnahnahmen vorherzusagen oder zuverlässig zu messen, ist den Unternehmen bei Erfüllung der ihnen auferlegten Sorgfaltspflichten weites Ermessen zuzubilligen und dabei die Grenze der Zumutbarkeit, die Selbständigkeit und Würde der Unternehmensangehörigen und die Wahrung des Betriebsklimas zu achten.

(5) Vor allem müssen Unternehmen sich weiterhin auf den Vertrauensgrundsatz verlassen dürfen. Er besagt, dass die Geschäftsleitung sich auf das richtige Verhalten der Beschäftigten verlassen kann, es sei denn, es gibt Hinweise, dass dieses Vertrauen nicht gerechtfertigt ist.

(6) Die TaxonomieVO ist komplex und widersprüchlich. Sie kann keine Grundlage für eine aufsichtsrechtliche Verteuerung der Finanzierungskosten sein.

Aus praktischer Unternehmenssicht kommt hinzu: Der Nachhaltigkeitsbericht ist sehr viel haftungsträchtiger als die bisherige Berichterstattung für den Jahresabschluss. Um Haftung wegen inkorrekter Berichterstattung zu minimieren, sollte der Bericht eher kurz als lang sein und geeignete Warnhinweise enthalten.

Ressourcenbindung

Rechtspolitisch kommt hinzu: Zu viel Absicherung und Dokumentation kann sich die EU im Transformationsprozess zu einer nachhaltigeren Wirtschaft nicht leisten. Die umfassenden technischen Umbrüche unserer Zeit, der konzentrierte Leistungswille und die ungebrochene Anstrengungsbereitschaft anderer Volkswirtschaften, der weltweit wachsende Migrationsdruck, die Alterung der EU-Bevölkerung und das Erfordernis steigender Transferleistungen kommen hinzu.

Gefordert sind daher kraftvoller Vortrieb und vorausschauende Innovation anstatt der Absicherung und Dokumentation jeden Schritts. Auch wenn Gesetzgeber, mit ihm verflochtene Nichtregierungsorganisationen und Standardsetzer, Abschlussprüfer und Berater für mehr Dokumentation, mehr Kontrolle und mehr Prüfung plädieren, so ist es volkswirtschaftlich und ökologisch vermutlich zweckmäßiger, ein gewisses Maß an ESG-Verstößen hinzunehmen und dort, wo verstoßen wird, zielgerichtet Abhilfe zu schaffen.

Manches im Fluss

In Zeiten von Fachkräftemangel ziehen CMS, Berichtspflichten, Prüfungsmechanismen und die immer voluminöseren gesetzgeberischen und behördlichen Apparate schmerzlich Personalressourcen ab, die besser zur Schöpfung von Werten (auch Umwelt- und Sozialwerten) eingesetzt werden könnten.

Die Unternehmen und ihre Organe sollten aus Sicht des Verfassers versuchen, die rechtpolitische Diskussion in diese Richtung zu beeinflussen. Denn derzeit ist noch manches im Fluss, insbesondere bei der Umsetzung der CSRD, bei den EFRS, beim Entwurf der CSDDD und bei der Berücksichtigung von ESG-Kriterien in den Eigenkapitalanforderungen der Finanzgeber und demgemäß den Finanzierungskosten.

Alexander Reuter

Rechtsanwalt und Attorney-at-Law (New York) bei Görg Partnerschaft von Rechtsanwälten
in Köln

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