Die frühe Wildwest-Phase einer Markterschließung
Franz Công Bùi.
Herr Bornschein, die Finanzwelt befindet sich im Umbruch – Stichworte wie Blockchain, Krypto, NFT oder dezentralisiertes Finanzwesen (DeFi) treiben die Branche um. Ist es bloß eine Blase oder doch eine alles umfassende Welle?
In gewisser Weise findet gerade eine Art Wildwest-Entwicklung statt, wie so häufig bei Zukunftstechnologien. Das, was heute das bequeme, legale Erlebnis von Spotify ist, war vor 20 Jahren das Herunterladen von Bittorrents und bei Napster Musik klauen. Das ist dann in Streaming und einen kommerziellen Service aufgegangen. Etwas Ähnliches sieht man gerade bei NFT und Krypto. Es ist die frühe Wildwest-Phase einer Markterschließung, deren Kerntechnologie „dezentrale Applikationen“ bleiben wird, deren Marktreife sich aber nochmal total umkehren wird. Wir schauen uns gerade das Napster einer Industrie an, und es ist unfassbar spannend. Die Infrastruktur deswegen abzuschreiben, weil die Applikationen obendrauf Wildwest sind, halte ich für falsch.
Bei Napster hat damals verwundert, dass die Musikindustrie dagegen vorgegangen ist, statt es zu vereinnahmen. Und dann musste sie sich von Apple und Spotify zeigen lassen, wie digitaler Musikvertrieb geht. Wird die Entwicklung hier ähnlich sein?
Das ist bereits bei der Diskussion um das sogenannte Web3, die Generation des World Wide Web, die auf der Blockchain basiert, zu beobachten. Da findet häufig eine sehr dogmatische Bewertung dessen als schlecht statt. Warren Buffett sagte, er würde für alle Bitcoins der Welt nicht 25 Dollar bezahlen. Und bei seiner Bewertung von Bitcoin hat er womöglich sogar recht. Was die Bewertung der darunterliegenden Blockchain und dezentralisierter Technologien angeht, wird er langfristig Unrecht behalten.
Die Skeptiker verweisen darauf, dass es bislang noch keine erfolgreichen, grundlegenden Anwendungsszenarien in der Breite gebe.
Und das ist falsch. Es ist der klassische Hype Cycle. Das dauert halt ein bisschen. Und es hilft nicht, immer erstmal die Blockchain als Lösung vorauszusetzen, um dann das passende Problem zu finden. Natürlich gehen die Blockchain-Prediger einem inzwischen wahnsinnig auf die Nerven. Aber das ist in allen Trends immer schon so gewesen, dass es diese Phasen der totalen Überdrehtheit gab. Die wird absehbar zu einem Ende kommen. Jetzt sehen wir gerade den zweiten Kryptowinter und das Abschmelzen der Preise. Und das ist für die Durchsetzung der Technologie auf einer nüchternen Ebene eher gut.
Ergeben sich durch die dezentralen Strukturen, durch DeFi, Chancen insbesondere für Europa?
Nicht nur Europa. Tokenomics, das Tokenisieren und Fraktionalisieren von Investmentgütern, aber auch die Notarisierung von Immobilien auf der Blockchain in Ländern, die kein Grundbuch haben, das macht natürlich Räume auf. Ein gutes Beispiel, wo eine interessante Retailwette läuft, ist Timeless. Da kann man in Anteile an einer Rolex oder einem Petruswein investieren.
Also werden Sammlergegenstände investierbare Güter.
Und das zu Retailpreisen. Die Tokenisierung von Kunstsammlungen oder von Häusern trägt die Demokratisierung bestimmter Assetklassen in sich. Das wird die Finanzwelt nachhaltig verändern. Alles wird tokenisiert. Es ist ja immer so in Wildwest-Märkten: Ein paar Sachen werden sich als krasser Betrug herausstellen und nicht funktionieren. Vorsicht ist nach wie vor geboten. Am Ende werden wir aber ganz neue Finanzprodukte sehen.
Inwiefern geht es um eine Demokratisierung von Assetklassen?
Wie haben eine gewisse gesellschaftliche Ungleichheit, die ein Problem darstellt: Sich eine Wohnung in Hamburg-Winterhude, dem Frankfurter Westend oder Berlin Prenzlauer Berg zu kaufen, ist für viele nicht möglich, ohne sich massiv zu verschulden. Mit Tokenisierung lassen sich aber Teile davon investitionsfähig machen. Damit kann man Assetklassen, die attraktive Renditen bringen, auch denen zugänglich machen, die sich einen ganzen Windpark nicht leisten können.
Wieso hat dieser Markt des Fractional Business oder der Micro Investments so viel Potenzial?
Der Markt ist volatil und sehr liquide. Das hat aus meiner Sicht zwei Gründe. Der erste ist die Demokratisierung als solche. Dem Sparer standen bisher Anlageinstrumente zur Verfügung, die gar nicht so eine besonders tolle Marge brachten. Wenn man in Deutschland liquide genug war, Immobilien zu kaufen, hätte man in Großstädten ein beliebiges Portfolio mit dem Dartpfeil zusammenkaufen können und in den letzten fünf Jahren 48% Rendite gemacht – natürlich sehr verkürzt dargestellt. Kein Kleinsparer hätte so eine Rendite hinbekommen. Insofern erzeugt diese Jagd nach Rendite, die bisher nur den oberen Zehntausend zur Verfügung stand, einen großen Auftrieb.
Und das Zweite?
Es ist unterhaltsamer, in die Wertentwicklung eines Turnschuhs zu investieren. Das ist für Privatanleger sehr tangibel und hat eine Engagement-Dimension, die interessanter ist, als Geld in irgendeinen Fonds zu stecken, bei dem man am Ende gar nicht weiß, was drin ist.
Ist das eine Generationenfrage?
Ja, die junge Generation hat verstanden, dass die Rente nicht sicher ist, und dass sie, um sich abzusichern, eine andere Rendite brauchen wird als ein Prozent. Natürlich sind diese Investments nahe dran am Gambling. Aber das hat diese Generation verstanden, und sie zockt trotzdem, weil sie erkennt, dass sie nur so eine Chance hat, so viel Geld zu allokieren, dass es mal reicht, sich selbst eine Rente zu leisten. Die Mentalität ist auch eine ganz andere, denn das Vertrauen in das Rentensystem hat dramatisch abgenommen.
Wie kommt es zu dem Eindruck, die etablierte Finanzindustrie würde diese Entwicklung ignorieren oder vernachlässigen, statt sich auf diese nichtklassischen Investmentprodukte einzustellen und den Markt zu bedienen?
Das ist wie so oft ein Strukturproblem. Die Banken sind in ihren traditionellen Märkten so engagiert und gebunden, dass sie in möglichen Wachstumsmärkten einen blinden Fleck haben. Das ist übrigens auch ein sehr deutsches Phänomen. Die Unternehmensführung beschäftigt sich sehr viel mehr mit der Vermeidung von Risiken als mit der Schaffung von Chancen. Das noch nicht einmal, weil sie so reguliert wären, sondern weil sie die Schere der Regulierung im Kopf haben. Und bei Banken gibt es noch mal sieben Risikokategorien mehr als bei einem Maschinenbauer. Deswegen werden Banken, was Retailprodukte auf der Blockchain angeht, erst später in den Markt einsteigen.
Da bildet sich nun auch ein völlig neues Umfeld heraus, gerade, was Kommunikationsmittel angeht.
Das stimmt, das beste Beispiel bilden Infrastrukturen wie Telegram oder auch Discord. Letzteres stammt ja aus dem Gaming-Bereich und spielt eine zunehmend entscheidende Rolle für die Kommunikation bei Produkten im Segment NFT und DAO (Decentralised Autonomous Organisation). Da bilden Telegram und Discord die Infrastruktur von Investor Relations.
Ist das bei tradierten Finanzdienstleistern hier angekommen?
Nein, und das verdeutlicht die Spaltung der Welt. Viele amerikanische Großbanken haben inzwischen Kryptoteams. In der traditionellen Corporate Bank deutscher Kreditinstitute hat das nach meiner Beobachtung niemand auf dem Schirm.
Doch auch jenseits dieser Technologien sind Defizite bei der Wettbewerbsfähigkeit europäischer Finanzinstitute zu konstatieren?
Relativ zum offenbar festgestellten Bedarf des deutschen oder europäischen Kunden gibt es eine Wettbewerbsfähigkeit, schließlich gibt es europäische Retailbanken. Relativ zum internationalen Wettbewerb sind dann nicht mehr viele geblieben, die global eine große Rolle spielen. In Europa reichen fünf Finger, um die europäischen Institute aufzuzählen, die weltweit eine Rolle spielen. Das sind Santander, BBVA, BNP Paribas, ING und die Deutsche Bank. Und die spielen nicht in den Top Ten oder Top Twenty der Welt mit.
Woran liegt das?
Es geht um Binnenmarkt-Kleinteiligkeit, es gibt keine richtige europäische Retailbank, die den ganzen Markt mit einer Banklizenz bearbeitet. Und dann entsteht genau das Problem wie bei digitalen Geschäftsmodellen auch: In einem sehr fragmentierten, mit Regulierungskosten bei Grenzübertritt verbundenen Binnenmarkt ist Wachstum auf der Retailseite nicht gut machbar.
Also ein Problem der Regulatorik?
Ich will gar nicht gegen Regulatorik wettern, wenn es aber keinen Binnenmarkt gibt, in dem man wachsen kann, und jeder Grenzübertritt, jede weitere nationale Filiale kostet wieder Geld, dann ist das vielleicht der eine Faktor zu viel dafür, global erfolgreich zu sein. Und ich sehe keine europäisch und global erfolgreiche Bank, die wirklich in der Breite mit J.P. Morgan, Goldman Sachs und anderen konkurrieren kann. J.P. Morgan macht Marcus als digitale Bank, Goldman Sachs investiert in stark wachsende Fintech-Start-ups auf der ganzen Welt und hat gesagt: Wir werden ein Technologieunternehmen mit angeschlossener Banklizenz. In Europa gibt es keine Bank, die mit dieser Art von Konsequenz und Entschlossenheit das Thema Technologie so sehr in den Kern von Banking gepackt hat.
Das Interview führte