„Die ‚low hanging fruits‘ sind gepflückt“
Franz Công Bùi.
Herr Reul, die Fintech-Szene kann einige Erfolge verzeichnen, doch die Entwicklung des Ökosystems der zurückliegenden zehn Jahre zeigt ein gemischtes Bild. Ist die Disruption ausgeblieben?
Da muss man differenzieren. Schaut man sich an, von wo wir gestartet sind, ist es doch ein wahnsinnig großer und wahrscheinlich auch revolutionärer Schritt gewesen. Deutsche Fintechs haben gezeigt, dass man hier in relativer kurzer Zeit erfolgreiche Banken und Broker bauen kann. Der Weg, ein relevantes Produkt oder eine Dienstleistung im Finanzmarkt anbieten zu können, ist auf eine Art sehr kurz geworden. Man sollte dabei aber eines nicht aus den Augen verlieren: Auch die traditionelle Finanzbranche schläft nicht und ist voll von innovativen Ideen. Fintechs haben viele Türen aufgestoßen, was in jedem Fall ein Erfolg ist. Doch in der Tat: die angesprochene große Disruption ist bisher ausgeblieben. Das gilt aber nicht nur für Deutschland, sondern bisher überall.
Haben sich die Perspektiven für Fintechs also eingetrübt?
Nein, das glaube ich nicht, im Gegenteil. Wir stehen noch ganz am Anfang der Digitalisierung. Wahrscheinlich sind die „low hanging fruits“ so langsam gepflückt, und auch aufgrund der weiteren Digitalisierung der traditionellen Finanzindustrie liegt die Messlatte für Erfolg inzwischen höher, eine gute Benutzeroberfläche reicht nicht. Aber das Tempo der technologischen Entwicklung ist ungebrochen. Finanzmärkte sind komplex, ich bin überzeugt, dass hier noch unzählige Chancen liegen, auch wenn das aktuelle Umfeld natürlich sehr herausfordernd ist.
Mit Blick auf Kryptoregulierung ist viel Bewegung entstanden. Reicht der erarbeitete Stand aus?
Nein, wir haben hier noch einen längeren Weg vor uns. Mit dem Entwurf der Micar, der europäischen Kryptoregulierung, machen wir einen großen Schritt nach vorne. Insbesondere wird es Anbietern hierdurch möglich, in einem regulierten Umfeld mit großer Rechtssicherheit den gesamten europäischen Markt zu adressieren – eine Riesenchance. Aber dennoch, in dem Entwurf gibt es noch einige Baustellen. Im Rahmen der durch die FTX-Insolvenz ausgelösten Diskussionen ist die Frage für die Aufseher drängender geworden, ob Micar reicht, beziehungsweise wann und wie hier nachgebessert werden soll. Eine der Herausforderungen ist es, den Unternehmen auch die Möglichkeit zu geben, die Regulierung zu leben und ihre Geschäftsmodelle anzupassen.
Schauen wir auf die nächste Dekade: Wie schätzen Sie die Aussichten für die Fintechs hier ein?
Wenn ich das zuverlässig beurteilen könnte, wäre ich in der falschen Branche. Aber die Digitalisierung wird uns noch lange als maßgeblicher Treiber begleiten und zahlreiche Chancen auch für junge Unternehmen bieten. Selbst wenn es klischeehaft klingt, künstliche Intelligenz ist hier wahrscheinlich eine der zentralen Technologien. Wenn Sie etwa mit Programmierern sprechen, wie neue Tools wie ChatGPT deren Arbeit beeinflussen, kann man leicht an Produktivitätssprünge glauben. Auch die Arbeiten an DLT-basierten Produkten und Dienstleistungen – insbesondere jenseits von Krypto – werden in unserer Wahrnehmung mit ungebrochener Kraft vorangetrieben. Weitere Innovationen folgen sicher, wenn digitales Zentralbankgeld eingeführt wird. Die Finanzbranche ist aber keine einfache Branche, und durch die Tür, die Fintechs aufgestoßen haben, werden nicht nur Fintechs gehen. Ich könnte mir vorstellen, dass wir in den nächsten Jahren stärker als bisher die traditionellen Banken und Finanzdienstleister, aber auch Technologieunternehmen als Treiber von Innovationen sehen werden. Klar erkennbar ist: Wer sich an Komplexität heranwagt, hat größere Aussicht auf Erfolg.
Das Interview führte