Finanzen und TechnikGastbeitrag

Digitalisierung des Whistleblowings

Das geleakte Video bei Tönnies, die veröffentlichten Bilder von Wilkes schimmeliger Wurst, die Skandale bei Wirecard und VW zeigen, dass Whistleblower erhebliche Reputationsschäden bei Unternehmen verursachen können.

Digitalisierung des Whistleblowings

Das geleakte Video bei Tönnies, die veröffentlichten Bilder von Wilkes schimmeliger Wurst, die Skandale bei Wirecard und VW zeigen, dass Whistleblower erhebliche Reputationsschäden bei Unternehmen verursachen können. Gleichzeitig spielen sie stets mit dem Feuer. Unternehmen wie Tönnies reagieren häufig mit Kündigung. Der Schutz vor sowie ein Recht auf Whistleblowing finden in deutschen Gesetzen kaum Niederschlag. Die EU macht nun jedoch Druck. Eine neue EU-Richtlinie vom 16. Dezember 2019 stärkt den Schutz von Whistleblowern erheblich. Ferner statuiert sie für Unternehmen mit mindestens 50 Arbeitnehmern die Pflicht, ein internes Meldesystem für Whistleblower zu implementieren. Damit dürfte sie zu einer Digitalisierung des Whistleblowings führen. Und es wird höchste Zeit, sich damit zu beschäftigen, da die EU-Richtlinie bis spätestens Dezember 2021 umgesetzt sein muss.

Viel Spielraum bei Umsetzung

Die EU-Richtlinie soll es Hinweisgebern ermöglichen, anonym vermeintliche Gesetzesverstöße zu melden. Sie gibt Unternehmen zwar einen weiten Spielraum, auf welche Art sie Whistleblowing ermöglichen (Postkasten, Telefon-Hotline, E-Mail, externer Ombudsmann). Klar im Trend und vorteilhaft scheinen die auf dem Markt bereits befindlichen technischen Lösungen. Eine Möglichkeit ist die Einführung eines Systems für geschriebene (Chat-Bot) oder gesprochene Nachrichten (Talk-Bot). Insbesondere Letzteres ermöglicht es, den Hinweis in Sprachform abzugeben. Das System wandelt die Sprachnachricht in Text um. Darüber hinaus liefern Online-Plattformen State-of-the-Art-Technologie, mit der die EU-Vorgaben umgesetzt werden können. Die Plattformen funktionieren wie ein von zwei Seiten zugängliches, sicheres Schließfach. Hinweisgeber erhalten vor dem Einreichen eines Berichts einen Code und legen eine eigene PIN fest. Beides wird für künftiges Einloggen in das Schließfach benötigt. Unternehmer oder ihre betrauten Berater können über ihren passwortgesicherten Zugang bei Bedarf zusätzliche Fragen stellen. Damit ist ein anonymer Dialog zwischen Hinweisgeber und Unternehmen möglich - so das Versprechen der Anbieter. Der sichere Dialog wird über eine integrierte Chat-Funktion, Upload von Dokumenten von jedem Gerät mit Zugang zum Internet von jedem Ort zu jeder Zeit ermöglicht.

Auch können solche Lösungen als Link direkt auf der Webseite des Unternehmens eingebettet werden. Dazu kommt, dass hierüber in einem System alle mündlichen, schriftlichen oder sonstigen Meldungen sicher und einfach verarbeitet werden können. Anbieter versprechen häufig, dass Cybersicherheit und Datenschutz höchste Priorität haben. Dies ist aber nur glaubwürdig, wenn die Systeme zertifiziert sind (z. B. DIN ISO 27001), der Server vorzugswürdig in der EU steht und die Systeme regelmäßig extern getestet werden. Welche Techniklösung die richtige für ihr Unternehmen ist, müssen Unternehmenslenker selbst entscheiden. Thomas Altenbach, Compliance-Experte und für Hinweisgebersysteme langjährig bei Dax-Unternehmen zuständig, empfiehlt Unternehmen, sich frühzeitig mit den unterschiedlichen technischen Lösungen auseinanderzusetzen, um die passende Lösung zu implementieren.

Ein zeitgemäßes Meldesystem muss spätestens im Dezember 2021 unter Beachtung der zwingenden Mitbestimmung implementiert sein. Betriebsvereinbarungen können Verfahren vorsehen, unter welchen Umständen welche Informationen gerichtlich auch gegen Arbeitnehmer verwendet werden dürfen, welche nicht. Dabei hilft auch eine frühere Umsetzung der EU-Richtlinie: Nutzt ein Whistleblower das Meldesystem, kann ein möglicher Gesetzesverstoß erst mal intern aufgeklärt werden. Nutzt er es nicht, ist die außerordentliche Kündigung regelmäßig wirksam, da der Arbeitnehmer auch nach der aktuellen Rechtsprechung verpflichtet ist, zunächst eine interne Aufklärung zu versuchen, soweit ihm dies möglich ist.

Kündigungsgrund?

Die Rechtsprechung hält eine Veröffentlichung von Interna grundsätzlich für von der Meinungsfreiheit geschützt und sogar für eine staatsbürgerliche Pflicht, wenn öffentliche Interessen betroffen sind (BAG, Urteil vom 3. Juli 2003). Dies auch wenn er gegen seine arbeitsvertragliche Loyalitäts- und Geheimhaltungspflicht (erheblich) verstoßen hat. Ausnahme: Die Interessen des Arbeitgebers werden „erheblich“ verletzt. Dabei sind folgende Fallgruppen von Bedeutung:

  • Grundsätzlich ist ein Arbeitnehmer verpflichtet, zunächst eine innerbetriebliche Aufklärung zu versuchen (BAG, Urteil vom 3. Juli 2003). Hiervon ist er nur befreit, wenn er eine eigene strafrechtliche Verfolgung konkret zu befürchten hat, die gesetzlichen Vertreter des Arbeitgebers persönlich an der vermuteten Straftat beteiligt sind, interne Abhilfe nicht zu erwarten ist und es sich um eine besonders schwerwiegende Straftat handelt.
  • Guter Glaube des Whistleblowers, das heißt insbesondere keine wissentlich unwahren oder leichtfertig falschen Angaben sowie eine korrekte Darstellung des Sachverhalts (BAG, Urteil vom 15. Dezember 2016).
  • Meldemotive des Whistleblowers nicht aus Eigennutz, vor allem nicht als unverhältnismäßige Reaktion auf ein vom Arbeitgeber gezeigtes Verhalten.
  • Die Anzeige ist leichtfertig und unangemessen, wenn für die zur Erfüllung des Straftatbestands erforderliche Absicht keine Anhaltspunkte bestehen (trotz richtiger Sachverhaltsdarstellung).

Als Faustformel gilt: Trägt der Arbeitgeber eine dieser Fallgruppen substantiiert vor, wird es eng für den Arbeitnehmer. Je höher wiederum das Öffentlichkeitsinteresse ist, desto eher gebührt der freien Meinungsäußerung Vorrang, und eine Pflichtverletzung des Arbeitnehmers wäre zu verneinen.

Gesellschaftlich erwünschte Hinweise sind ohne Zweifel vermeintliche Steuerhinterziehung, Bestechung oder, wie bei Tönnies, Nichteinhaltung von Hygienevorschriften. Um solche Skandale vorzugswürdig intern aufzuklären, ist der Einsatz von (digitalen) Meldesystemen dienlich. Arbeitgeber sind gut beraten, vor dem Ausspruch einer Kündigung die Voraussetzungen einer Kündigung sorgsam und einzelfallbezogen zu prüfen, um noch mehr negative Presse im Falle einer unwirksamen Kündigung eines Whistleblowers zu vermeiden.

Thomas Block, Rechtsanwalt bei AC Tischendorf Rechtsanwälte