Aktienmarkt

Abnehmende Marktbreite ein Störfaktor für Aktien

Die US-Indizes eilen von Rekord zu Rekord. Doch die abnehmende Marktbreite bereitet Kopfzerbrechen.

Abnehmende Marktbreite ein Störfaktor für Aktien

Von Jörg Scherer*)

Die Aktienmärkte zeigen sich weiterhin von ihrer freundlichen Seite. Besonders die US-Aktienindizes erreichen dabei immer neue Rekordhöhen. So konnte beispielsweise der S&P 500 sein Allzeithoch zu Wochenbeginn bis auf 4537 Punkte ausbauen – das 53. Rekordlevel im bisherigen Jahresverlauf 2021. „Alles eitel Sonnenschein“, könnten Investoren deshalb meinen – doch unter der Oberfläche bereitet vor allem die abnehmende Marktbreite Kopfzerbrechen.

Bei der Erstellung unseres „Technischen Jahresausblicks“ zählt die Analyse der Marktbreite zu den absoluten Pflichtaufgaben. Aber auch aktuell liefert die grundsätzliche Marktverfassung eine wichtige Orientierungshilfe. Während die Advance-/Decline-Linie als ältester Marktbreite-Indikator lange Zeit von Hoch zu Hoch eilte, zeigt sich seit Mitte Juni ein anderes Bild. Der Saldo aus gestiegenen und gefallenen Aktien für alle an der Nyse notierten Papiere tritt seither auf der Stelle bzw. korrigiert sogar. Im Gegensatz dazu erreichen der S&P500, der Dow Jones und auch der Nasdaq100 beinahe täglich neue Hochstände.

Schere öffnet sich

Bei der Marktbreite öffnet sich also die Schere, sodass eine negative Divergenz entsteht. Mit anderen Worten: Die laufende Rekordjagd der amerikanischen-Standardwerte wird von einer abnehmenden Anzahl an Einzeltiteln getragen. Diese Konstellation ist typisch für die Spätphase einer Hausse, in der oftmals nur noch wenige hochkapitalisierte Titel den zugrundeliegenden Index auf neue Hochstände treiben, wohingegen die Masse der Indexmitglieder bereits zurückbleibt. Die A-/D-Linie ist gerade vor dem Hintergrund der jüngsten Allzeithochs kein ideales Timing-Instrument, doch die abnehmende Marktbreite signalisiert eine spätzyklische Phase.

Selektivität nimmt zu

Neben der Advance-/Decline-Linie ziehen wir zur Analyse der Marktbreite zusätzlich gerne den Value-Line Arithmetic-Index heran. Dabei handelt es sich um ein marktbreites US-Aktienbarometer. Die mehr als 1600 Index-Mitglieder werden gleichgewichtet, d.h. im Gegensatz zur sonst üblichen Gewichtung anhand der Marktkapitalisierung wird nach dem Motto „one stock, one vote“ verfahren. Anders als beim S&P 500 stammt hier der derzeit gültige Rekordstand (9841 Punkte) von Mitte Juni. Die jüngsten Allzeithochs der amerikanischen Standardwerte wurden also nicht mehr bestätigt, sodass eine weitere negative Divergenz vorliegt. Apropos „sich öffnende Schere“: Das Ausmaß der kreditfinanzierten Aktienkäufe in den USA ist zuletzt erstmals seit dem Coronatief vom März 2020 gefallen. Eine wesentliche Antriebsquelle der laufenden Hausse droht also zu versiegen. Zumindest bleibt auch von dieser Seite eine Bestätigung der neuen Allzeithochs aus.

Als zusätzliche Orientierungshilfe ziehen wir regelmäßig saisonale Kursverläufe bzw. zyklische Faktoren heran. Insbesondere bei der Erstellung unseres technischen Jahresausblicks spielen der Dekaden- und der US-Präsidentschaftszyklus eine große Rolle. Besonders zu schätzen wissen wir dabei Situationen, in denen die saisonalen Rahmenbedingungen der beiden bekanntesten Zyklen überhaupt Hand in Hand gehen. Im nahenden September ist genau dies der Fall, denn sowohl der Dekaden- als auch der US-Präsidentschaftszyklus mahnen derzeit zur Vorsicht. Während der typische Verlauf des Dow Jones in Nachwahljahren der USA eine klassische September-/Oktober-Delle nahelegt, bestehen beim Blick auf das Ablaufmuster des „1er-Jahres“ im September sogar deutliche Rückschlagsgefahren. Dabei ist die schwache Dow-Performance nicht (nur) durch Einzelereignisse wie beispielsweise die Anschläge vom 11. September 2001 zu erklären, sondern Investoren besitzen derzeit generell schlechte Karten. So konnte der Dow Jones im September in einem „1er-Jahr“ nur in 2 von 12 Fällen zulegen. Die Trefferquote beträgt lediglich 16,67%. Negative Chartmuster fallen in den nächsten Wochen deshalb auf fruchtbaren saisonalen Boden.

Signalgeber gesucht

Alle bisher angeführten Argumente deuten auf den „wunden Punkt“ des Marktes hin. Doch um daraus wirklich eine nennenswerte Korrektur abzuleiten, bedarf es eines charttechnischen Auslösers. Bisher fehlt ein negatives Preissignal. An dieser Stelle kommt die Trendlinie ins Spiel, welche die Hochs von 2010 bzw. 2011 sowie von 2013/14/15 beim S&P 500 verbindet (aktuell bei 4390 Punkten). Einen Rückfall in den eingezeichneten Trendkanal definieren wir als Wegbereiter einer Atempause und Auslöser für Gewinnmitnahmen. Charttechnisch wachsen die Bäume aber noch aus zwei weiteren Gründen nicht mehr in den Himmel: Zum einen hat das Aktienbarometer das Kursziel aus der „V-Umkehr“ von 2020 von knapp 4600 Punkten nahezu ausgeschöpft, zum anderen sind diverse Indikatoren mehr als heißgelaufen. So notiert der MACD auf absolutem Rekordniveau und der RSI ist in überkauftes Terrain vorgestoßen. Vor dem Hintergrund der abnehmenden Marktbreite sowie der saisonalen September-Herausforderungen sollten sich Anleger dem spätzyklischen Stadium der Hausse bewusst sein. Bei steigenden Risiken gewinnt ein aktives Money Management an Bedeutung.

*) Jörg Scherer ist Leiter Technische Analyse bei HSBC Deutschland.

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