IM INTERVIEW: DAVID KOSTIN, GOLDMAN SACHS

"Aktien nach meisten Kriterien teuer"

Stratege erwartet S&P 500 Ende 2020 bei 3 400 Punkten und setzt auf Wachstum zu vernünftigen Preisen

"Aktien nach meisten Kriterien teuer"

David Kostin ist für die Aussichten des amerikanischen Aktienmarktes in diesem Jahr moderat zuversichtlich. Der leitende US-Aktienstratege von Goldman Sachs hält Aktien zwar für recht hoch bewertet, traut aber dem S&P 500 einen bescheidenen Anstieg zu. Herr Kostin, die sogenannten FANG-Aktien haben im zurückliegenden Jahr deutliche Kursgewinne eingefahren. Würden Sie diese Investoren ans Herz legen?Investoren müssen wissen, dass es sich hierbei um eine Gruppe sehr heterogener Unternehmen handelt. Sie betreiben Geschäfte, die sich stark voneinander unterscheiden. Auch gibt es keine genaue Definition von FANG. Manche meinen damit Facebook, Amazon, Netflix und den Google-Betreiber Alphabet, andere tauschen Amazon durch Apple aus und einige Leute reden über FAANG, d. h. sie rechnen sowohl Apple als auch Amazon der Gruppe zu. Für uns ist all dies aber nicht entscheidend. Wir empfehlen nicht pauschal FANG- oder FAANG-Aktien, sondern wollen Wachstum zu vernünftigen Preisen im Portfolio haben. Nach welchen Kriterien wählen Sie solche Aktien aus?Wir wählen Aktien aus, die zu den Top-20-Prozent ihrer Branche nach Wachstum, etwa entsprechend ihres Umsatzes und ihres Ergebnisses je Aktie, zählen. Nach Bewertungskriterien wie etwa dem Kurs-Gewinn-Verhältnis, dem Kurs-Buchwert-Verhältnis und der Free-Cash-flow-Rendite müssen diese Aktienwerte im Mittelfeld ihrer Branche liegen, also weder zu den Top-20-Prozent noch zu den niedrigsten 20 % ihres Sektors gehören. Wir haben 42 Aktien aus elf Branchen identifiziert, die diese Kriterien erfüllen. Alphabet zählt mit einem für dieses Jahr erwarteten Ergebniswachstum je Aktie um 15 % und einem Umsatzwachstum von 18 % dazu. Microsoft ist eine weitere der sehr großen Aktien, die unsere Kriterien erfüllen. Es gibt Sorgen, dass regulatorische Eingriffe das Geschäft großer Technologiefirmen beeinträchtigen könnten. Teilen Sie diese Sorgen?Regulatorische Risiken muss man auf jeden Fall im Blick haben. In der Vergangenheit hat es mehrfach Anti-Trust-Verfahren in den USA gegeben. Viele Ihrer Leser erinnern sich sicherlich an das Verfahren gegen Microsoft Ende der 90er Jahre. Der Telefonkonzern AT&T wurde 1982 zur Aufspaltung gezwungen. Für die betroffenen Unternehmen kann das zu einer Verschlechterung ihrer geschäftlichen Entwicklung führen. So ist das durchschnittliche jährliche Erlöswachstum von Microsoft und AT&T nach dem jeweiligen Verfahren von 39 % auf 10 % bzw. von 10 % auf 4 % gesunken. Aber: Bei den großen Internetfirmen ist das nicht so einfach. Es ist wichtig zu bedenken, dass die Kartellwächter in den USA und der EU nach unterschiedlichen Ansätzen verfahren. In der EU wird geprüft, ob ein Unternehmen aufgrund seiner starken Marktstellung anderen Unternehmen Schaden zufügt. In den USA geht es dagegen darum, ob eine starke Marktstellung höhere Preise für die Konsumenten zur Folge hat. Die Nutzung von Google ist aber kostenlos! Natürlich könnte im Prinzip das Argument verfolgt werden, dass die von den Nutzern zur Verfügung gestellten Daten einen materiellen Wert haben. Aber das ist eine rein juristische Frage. Welche Folgen könnte die Präsidentschaftswahl für den US-Aktienmarkt haben?Die Wahl ist für die Einschätzung der Aussichten sehr wichtig. Wir gehen derzeit davon aus, dass in diesem Jahr die Gewinne je Aktie des S&P 500 um 6 % von 165 auf 174 und 2021 um nochmals 5 % auf 183 Dollar steigen werden. Unsere Jahresschlussprognose für den S&P 500 liegt bei 3 400 Punkten. In unserem Basisszenario gehen wir ferner davon aus, dass es weder den Republikanern noch den Demokraten gelingen wird, sowohl die Präsidentschaft zu gewinnen bzw. zu behaupten als auch in beiden Kammern des Kongresses die Mehrheit zu erlangen. Die Präsidentschaftskandidaten der Demokraten sprechen sich für höhere Unternehmenssteuern aus, was sich negativ auf die Unternehmensgewinne auswirken würde. Würden sie den Präsidenten stellen, in beiden Kammern die Mehrheit erreichen und die Steuerreform von Donald Trump rückgängig machen, würden die Gewinne der S&P-500-Unternehmen im kommenden Jahr um 7 % auf 162 Dollar sinken. In diesem Szenario, das aber unserer Einschätzung nach nicht eintreten wird, würden wir den S&P 500 Ende 2020 bei 2 600 Zählern erwarten. Wie beurteilen Sie die Bewertungslage am amerikanischen Aktienmarkt?Gemäß den meisten Kriterien sind Aktien teuer. Relativ zu den Zinsen sind sie allerdings attraktiv. Das gleitende 12-Monats-KGV des S&P 500 erwarten wir Ende 2020 bei 18,6. Sollten die Demokraten bei der Wahl alles gewinnen und damit eine Erhöhung der Unternehmenssteuern drohen, würde es nach unserer Einschätzung auf rund 16 fallen. Haben die Aktienrückkäufe der Unternehmen ihren Höhepunkt überschritten?Nach dem Rekord des Jahres 2018 sind Aktienrückkäufe 2019 um 15 % auf 710 Mrd. Dollar gesunken. Unserer Einschätzung nach werden sie in diesem Jahr um weitere 5 % auf 675 Mrd. Dollar zurückgehen. Gründe für den Rückgang im vergangenen Jahr waren zum einen die vom Handelskonflikt ausgehende Unsicherheit, zum anderen die zunehmende Kritik an den Rückkäufen. Kritiker sind der Auffassung, dass Unternehmen das Geld aus den Steuersenkungen genutzt haben, um Aktienrückkäufe zu tätigen und dadurch ihre Führungskräfte zu bereichern. Der politische Gegenwind veranlasst die Unternehmen, Aktienrückkäufe zu reduzieren. Sie sind aber nach wie vor die größte Käufergruppe des Aktienmarktes. Das Interview führte Christopher Kalbhenn.